Das Grab zu Heidelberg.
gärtchen gegenüber, sahen, das Licht über den Blüten
wechseln, Baumschatten sich verdichten und auflösen,
sahen die Rheinebene bis in die jenseitige Pfalz hinein
morgenklar daliegen oder im Gleisch des Sonnenunter-
gangs versinken, bis nur noch die höchsten Wolken glühten
und ihre Glut im schmalen Streifen des Rheines spiegel-
ten, und manchmal auch trafen ihre Blicke zugleich die
an dem Hinteren Geländer dem Eingang gegenüber
angebrachte Tafel:
Rubestätte
der Familie Mynert
aus
Amerika
und sie meinten, es sei auch jetzt schon wirklich eine
Ruhestätte.
Eines Frühlingstages aber wurde Herr Meinert
in Pittsburg von einem Schläglein überrascht, und
einige Tage später, nachdem er in einem lichten Momente
noch den gespannten Augen seiner Frau zugelächelt und
geflüstert hatte:
„Auf Wiedersehen in Heidelberg!"
gab er seinen Geist aufJ
Die Frau verfuhr, wie es für diesen Fall verabredet
war, wickelte die laufenden Geschäfte ab und zog sich
mit einem guten Vermögen aus ihnen zurück; denn sie
wollte fortan, wenn ihr die Ruhe erträglich wäre, in
Heidelberg wohnen bleiben.
Nach kurzem saß sie in der Kajüte eines Bremer
Dampfers, und der Sarg war vor ihren Augen vom
Riesenarm eines Dampfkrans gehoben, in der rasselnden
Luft herumgeschwenkt und nach einem winkenden
Schwanken jäh in den offenen Bauch des Schiffes hinab-
gelassen worden --
In der vierten Nacht fuhr sie von einem allmächtigen
Stoß und Krach empor. Es kam ihr zugute, daß sie ge-
wohnt war, auf Reisen immer in den Kleidern zu schlafen:
sie brauchte nur in die Schuhe zu treten, den Mantel
überzunehmen und nach der Tasche zu greifen, und war
schon reisefertig auf Deck, als erst Vereinzelte in Unter-
kleidern rufend durch die Gänge rannten, und unstillbar
die Klingeln schrillten und die Notsignale brüllten. Sie
eilte hin, wo sie Mannschaft und Offiziere hörte, ward in
ein Rettungsboot gehoben — und hinabgelassen — und
fühlte sich auf schwanker Welle — sah sich auf das Fallrep
des Dampfers zutreiben — und wieder zurückgleiten —
und das Fallrep voll händestreckender Menschen, — sah
sich wieder darauf zutreiben —sah Menschen in das kaum
festzuhaltende, hin und her geschleuderte Rettungsboot
drängen, springen, stürzen, — sah das Boot von einem
gewaltigen Schwall wieder dem Dampfer ferngerissen
werden, — hörte den Schrei derer auf dem Schiff wie
Sturmesheulen, — sah den Dampfer ferner und ferner
zurückweichen und das übervolle, von Jammer, Unheils-
berichten und hysterischen Entsetzensschreien gequälte
Boot mit gleichmäßigen Ruderschlägen in die stürmisch
widerstrebende, schwanke Nacht hinausflüchten.
Am andern Morgen wurden die Schiffbrüchigen von
einem zu Hilfe eilenden Schiffe gefunden und mit-
genommen, zurück nach New-Pork; Frau Meinert im
Fieber einer heftigen Lungenentzündung.
Nach der Landung wurde sie ins Hospital gebracht,
sie starb und wurde in der üblichen Weise begraben;
denn das Geldtäschchen hatte ihr schon die Wärterin auf
dem rettenden Dampfer vom Halse genommen und sich
angeeignet. !
Über die Heidelberger Ruhestätte der Familie Mynert
aus Amerika ist unterdessen wieder Gras gewachsen,
und manchmal reichen die Rispen, ehe sie sich neigen,
über das verwaschene Geländer und seine Märchen-
blumen hinaus.
Oum Drama und Theater der
(O Gegenwart.
II. Spielen.
Wir müssen an das Sprachproblem anknüpfen, um
das Problem „Spielen", das ja eigentlich nur eins des
Schauspielers zu sein scheint, ganz in die Hand zu be-
kommen.
Wenn es richtig ist, was wir feststellten, daß ein
Drama, genau wie jedes andere Dichtwerk, zunächst
ein Sprachkunstwerk sei und auch zu sein habe, so
kommen wir nicht umhin, die Wandlungen, die mit dem
Drama und dem Theater und auch mit der Schauspiel-
kunst vor sich gegangen sind, im Zusammenhang mit den
Wandlungen der Sprache zu betrachten.
Wenn es richtig ist, daß der Spielleiter bei der In-
angriffnahme eines neuen Dramas nur von diesem
Drama ausgehen darf (von dem wir annehmen, daß es
das reine Werk eines Dichters ist), nicht aber von einer
Mode oder einer Aeitstimmung, nicht von einer momen-
tan üblichen Art, Dramen zu spielen, ausgehen darf —
sondern den „Stil" dieses Dramas rein und allein aus
den Blättern des Dichters erhorchen darf, wobei ihm
alle Freiheit der Ausgestaltung ja bleibt, wenn sie im
Sinne des Kunstwerks bleibt — wobei ihm auch alle
Freiheit bleibt, etwaige Fehlgriffe in den Anordnungen
des Dichters richtigzustellen, wenn nur der Tert des
Dichters richtig, vollendet, d. h. organisch und in sich
geschlossen — kurz, wenn es richtig ist, daß der Spiel-
leiter nicht irgendwelchen Aufführungsstil anwenden,
sondern den Stil dieses Dramas finden soll — so ist
klar, daß er das am besten, am sichersten nur kann aus
der innersten Seele des dramatischen Dichtwerks, welche
in der Sprache am reinsten klingt.
Und wie sollte ein Spielleiter, dem sein Tun Dienst
am Namenlosen ist (und nicht Handwerk und Fertig-
keit), — anders handeln dürfen? Wenn noch manche
anders handeln — die Zeit muß kommen, wo sie nicht
mehr dürfen.
Wenn im Verfolg der Naturalistenrevolution den
Menschen von gestern das Schillerpathos unerträglich
wurde, und sie ihm den Jargon des Alltags vom Ausgang
des Jahrhunderts in ihren Dramen entgegenstellten, so
war das ganz gewiß nicht eine interne Angelegenheit
der Dichter. Im Roman konnte man es als ihre interne
Angelegenheit ansehen. Im Drama nicht. Man hatte
und hat noch nicht genug gesehen, wie mit den Wand-
lungen der Sprache eine Wandlung im Stil dessen, was
wir das „Spielen" der Schauspieler nennen, urnot-
gärtchen gegenüber, sahen, das Licht über den Blüten
wechseln, Baumschatten sich verdichten und auflösen,
sahen die Rheinebene bis in die jenseitige Pfalz hinein
morgenklar daliegen oder im Gleisch des Sonnenunter-
gangs versinken, bis nur noch die höchsten Wolken glühten
und ihre Glut im schmalen Streifen des Rheines spiegel-
ten, und manchmal auch trafen ihre Blicke zugleich die
an dem Hinteren Geländer dem Eingang gegenüber
angebrachte Tafel:
Rubestätte
der Familie Mynert
aus
Amerika
und sie meinten, es sei auch jetzt schon wirklich eine
Ruhestätte.
Eines Frühlingstages aber wurde Herr Meinert
in Pittsburg von einem Schläglein überrascht, und
einige Tage später, nachdem er in einem lichten Momente
noch den gespannten Augen seiner Frau zugelächelt und
geflüstert hatte:
„Auf Wiedersehen in Heidelberg!"
gab er seinen Geist aufJ
Die Frau verfuhr, wie es für diesen Fall verabredet
war, wickelte die laufenden Geschäfte ab und zog sich
mit einem guten Vermögen aus ihnen zurück; denn sie
wollte fortan, wenn ihr die Ruhe erträglich wäre, in
Heidelberg wohnen bleiben.
Nach kurzem saß sie in der Kajüte eines Bremer
Dampfers, und der Sarg war vor ihren Augen vom
Riesenarm eines Dampfkrans gehoben, in der rasselnden
Luft herumgeschwenkt und nach einem winkenden
Schwanken jäh in den offenen Bauch des Schiffes hinab-
gelassen worden --
In der vierten Nacht fuhr sie von einem allmächtigen
Stoß und Krach empor. Es kam ihr zugute, daß sie ge-
wohnt war, auf Reisen immer in den Kleidern zu schlafen:
sie brauchte nur in die Schuhe zu treten, den Mantel
überzunehmen und nach der Tasche zu greifen, und war
schon reisefertig auf Deck, als erst Vereinzelte in Unter-
kleidern rufend durch die Gänge rannten, und unstillbar
die Klingeln schrillten und die Notsignale brüllten. Sie
eilte hin, wo sie Mannschaft und Offiziere hörte, ward in
ein Rettungsboot gehoben — und hinabgelassen — und
fühlte sich auf schwanker Welle — sah sich auf das Fallrep
des Dampfers zutreiben — und wieder zurückgleiten —
und das Fallrep voll händestreckender Menschen, — sah
sich wieder darauf zutreiben —sah Menschen in das kaum
festzuhaltende, hin und her geschleuderte Rettungsboot
drängen, springen, stürzen, — sah das Boot von einem
gewaltigen Schwall wieder dem Dampfer ferngerissen
werden, — hörte den Schrei derer auf dem Schiff wie
Sturmesheulen, — sah den Dampfer ferner und ferner
zurückweichen und das übervolle, von Jammer, Unheils-
berichten und hysterischen Entsetzensschreien gequälte
Boot mit gleichmäßigen Ruderschlägen in die stürmisch
widerstrebende, schwanke Nacht hinausflüchten.
Am andern Morgen wurden die Schiffbrüchigen von
einem zu Hilfe eilenden Schiffe gefunden und mit-
genommen, zurück nach New-Pork; Frau Meinert im
Fieber einer heftigen Lungenentzündung.
Nach der Landung wurde sie ins Hospital gebracht,
sie starb und wurde in der üblichen Weise begraben;
denn das Geldtäschchen hatte ihr schon die Wärterin auf
dem rettenden Dampfer vom Halse genommen und sich
angeeignet. !
Über die Heidelberger Ruhestätte der Familie Mynert
aus Amerika ist unterdessen wieder Gras gewachsen,
und manchmal reichen die Rispen, ehe sie sich neigen,
über das verwaschene Geländer und seine Märchen-
blumen hinaus.
Oum Drama und Theater der
(O Gegenwart.
II. Spielen.
Wir müssen an das Sprachproblem anknüpfen, um
das Problem „Spielen", das ja eigentlich nur eins des
Schauspielers zu sein scheint, ganz in die Hand zu be-
kommen.
Wenn es richtig ist, was wir feststellten, daß ein
Drama, genau wie jedes andere Dichtwerk, zunächst
ein Sprachkunstwerk sei und auch zu sein habe, so
kommen wir nicht umhin, die Wandlungen, die mit dem
Drama und dem Theater und auch mit der Schauspiel-
kunst vor sich gegangen sind, im Zusammenhang mit den
Wandlungen der Sprache zu betrachten.
Wenn es richtig ist, daß der Spielleiter bei der In-
angriffnahme eines neuen Dramas nur von diesem
Drama ausgehen darf (von dem wir annehmen, daß es
das reine Werk eines Dichters ist), nicht aber von einer
Mode oder einer Aeitstimmung, nicht von einer momen-
tan üblichen Art, Dramen zu spielen, ausgehen darf —
sondern den „Stil" dieses Dramas rein und allein aus
den Blättern des Dichters erhorchen darf, wobei ihm
alle Freiheit der Ausgestaltung ja bleibt, wenn sie im
Sinne des Kunstwerks bleibt — wobei ihm auch alle
Freiheit bleibt, etwaige Fehlgriffe in den Anordnungen
des Dichters richtigzustellen, wenn nur der Tert des
Dichters richtig, vollendet, d. h. organisch und in sich
geschlossen — kurz, wenn es richtig ist, daß der Spiel-
leiter nicht irgendwelchen Aufführungsstil anwenden,
sondern den Stil dieses Dramas finden soll — so ist
klar, daß er das am besten, am sichersten nur kann aus
der innersten Seele des dramatischen Dichtwerks, welche
in der Sprache am reinsten klingt.
Und wie sollte ein Spielleiter, dem sein Tun Dienst
am Namenlosen ist (und nicht Handwerk und Fertig-
keit), — anders handeln dürfen? Wenn noch manche
anders handeln — die Zeit muß kommen, wo sie nicht
mehr dürfen.
Wenn im Verfolg der Naturalistenrevolution den
Menschen von gestern das Schillerpathos unerträglich
wurde, und sie ihm den Jargon des Alltags vom Ausgang
des Jahrhunderts in ihren Dramen entgegenstellten, so
war das ganz gewiß nicht eine interne Angelegenheit
der Dichter. Im Roman konnte man es als ihre interne
Angelegenheit ansehen. Im Drama nicht. Man hatte
und hat noch nicht genug gesehen, wie mit den Wand-
lungen der Sprache eine Wandlung im Stil dessen, was
wir das „Spielen" der Schauspieler nennen, urnot-