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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 31.1921

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Heft 3
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Röttger, Karl: Zum Drama und Theater der Gegenwart, [2]: Spielen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26485#0135

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Zum Drama und Theater der Gegenwart.

wendig parallel gehen mußte. Es ist richtig, das hohe
Pathos Schillers mußte mal lästig werden, aber nachdem
wir heute in Ruhe die achtziger und neunziger Jahre des
letzten Jahrhunderts betrachten, wissen wir, daß die All-
tagssprache, oder sagen wir ruhig: der Naturalistenjargon,
das andere Ertrem war; und: auf die Dauer ebenso
unerträglich werden mußte und geworden ist. Aber
auch: daß dem Dichter, der wirklich einer sein wollte
und höhere Aspirationen hatte als irgendwas Daseiendes
nachzuahmen, unmöglich diese Sprache als Ausdruck
des von ihm zu Sagenden genügen könne. Anderseits
wäre es ungerecht, zu verkennen, daß Schillers Sprache
oft große Schönheiten hätte, daß beispielsweise im „Don
Carlos" oder im „Wallenstein" ganz bedeutender Aus-
druck der Menschen und Herzen gewonnen wurde.
Jedoch, auf der Linie seiner Sprache liegt das Drama
der Gegenwart nicht. So wenig es auf der Linie des
Naturalismus liegt. Das Drama als Sprachkunstwerk
wird eine Linie zwischen Schillerpathos und Natura-
listenjargon innehalten. Eine Linie der dichterischen
Sprache, die, ohne verstiegen und unnatürlich (im bösen
Sinne) zu sein, Rhythmus und Schönheit hat und:
adäquater Ausdruck dessen sein muß, was ausgedrückt
werden soll. Irgendwie muß Kleist das schon gefühlt
haben, denn er schreibt in seinen Dramen oft das, was
wir „freien Rhythmus" nennen. Der freie Rhythmus
ist das, was im Sprachstil des Dramas meist das Ge-
gebene sein wird. Denn der freie Rhythmus ist nicht
eine „Form", wie etwa der fünffüßige Jambus, sondern
läßt alles zu, was ein sprachmusikalischer Dichter inner
sich und inner den Dingen erhorcht und was durch ihn
um Ausdruck ringt. Mit freiem Rhythmus meine ich
nur: Öffnung eines Tors für den Dichter, daraus in
Freiheit zu gehn; meine ich: die Möglichkeit eines
jeden Rhythmus. Freilich: Rhythmus muß es
sein, und die Prosa eines Dramatikers wird auch nicht
wesentlich anders sein können — wird auch rhythmisch
sein müssen. Vielleicht monotoner, aber nicht unrhyth-
mischer, noch nicht einmal arhythmisch. Und allmählich
muß allen, Dichtern und Publikum, aufgehn: die große
Einheit dessen, was ich im Tiefsten „Sprache" nenne —
dieses lebendigen, in tausend und abertausend Formen
und Rhythmen lebenden Wesens. (Das aber'nur dann
lebt, wenn es aus innen geboren, nicht von außen
angewendet oder „gemacht" wird.)
Zwischen Schillerpathos und Naturalismus, das
heißt aber nicht auf ganz enger Linie, sondern in ziemlich
breitem Spielraum, wird die Sprache des neuen Dramas
sich bewegen.
Und der Dramatiker wird Musik in sich haben müssen.
Wird, um das zu wiederholen, wenigstens ein kleines
lyrisches Element in sich haben müssen. Ein Phänomen
ist in dieser Hinsicht Georg Kaiser, den ich als Dramatiker
immer noch bedeutend nehme, der aber, wie ich schon
sagte, ein ganz und gar unmusikalischer Dichter ist, der
gleichwohl in seiner beinah abstrakten Sprache doch
Rhythmus hat. Vielleicht den Rhythmus von Geo-
metrie und Algebra — aber doch Rhythmus. Es ist ein
Jammer bei diesem Dichter, wie er packendste Probleme
in einer Jagd von gespensterhaft hinhuschenden Sen-
sationen zu Tode hetzt. Ein Dramatiker, kein Zweifel,
///

aber kein Dichter. Also nicht das, was ich von der Zu-
kunft lvill, den dramatischen Dichter.
Es konnte ja auch nicht anders sein, als daß die Sprache
Zentrum sei. Sie ist das immer gewesen, ob erkannt
oder unerkannt, ob zugestanden oder nicht. Und auch
das „Spielen" hat sich um dies Zentrum bewegt. Die
gröbsten sinnfälligen Tatsachen begreift jeder: daß das
pathetische Spiel vergangenen Jahrhunderts mit dem
Jambenstil unlösbar zusammenhing — daß der Natura-
lismus der Sprache vor Jahrzehnten den naturalistischen
Darstellungsstil hervorbrachte — mit dem man das
„Letzte" erreicht zu haben glaubte. Aber wenn heute
Spielleiter dahin streben, etwa den „Stil Georg Kaisers"
zu finden — was kann das anders heißen und wie soll
es anders möglich sein, als einen der Sprache dieses
Georg Kaiser adäquaten Gestus, eine dieser Sprache
parallele Bewegungsform der Künstler auf der Bühne
zu finden? (Natürlich neben dem adäquaten Bildausdruck
der Bühne.)
Das naturalistische Spielen in den Dramen des
Naturalismus bewegte sich parallel zur naturalistischen
Sprache. Wie der Dichter die Sprache einer Bevöl-
kerungsschicht, eines Berufes, der Straße, des Alltags
studierte — hatte der Schauspieler das Sichgeben von
Menschen in Beruf, einer Schicht der Gesellschaft, zu
studieren, Typen des Alltags genau anzusehen. „Lebens-
wahr", „natürlich", „echt" (im Sinne von Natürlichkeit)
zu sein. Daß darin eine Degradierung der Schauspiel-
kunst wie des Schauspielers lag, ist spat begriffen worden.
Konnte nicht begriffen werden, solange es ein Kunstziel
war. Heute lichten sich uns diese dunklen Irrtümer,
und wir begreifen, daß die Schauspielkunst in ihren hohen
und höchsten Äußerungen etwas anderes ist und zu sein
hat: eben die schöpferische Tat des Schau-
spielers.
Was heißt das?
Dies: Daß der Schauspieler nicht anders als der
Spielleiter, nicht anders als der Bühnenausstattungs-
künstler, auch nicht anders als der Bühnenmusik schrei-
bende Komponist von dem großen Gesetz der Sachlichkeit
beherrscht sein muß, daß er sein Spiel vornehmlich ge-
winnen muß aus dem Drama . . . aus dem wortmusi-
kalischen Tert des Dramas. Das aber bedeutet,
daß ihm alles, was er zu leisten hat: Bewegung, Gestus,
Mienenspiel, aus der Dichtung hervorgehen muß. Das
kann es nur, wenn er ein geistiger Mensch ist, wenn er
Künstler ist, d. h. wenn er Intuition hat. Ohne
Intuition wird er zu keiner Höhe kommen; wenn er
Künstler ist und sein will, braucht er die Erfindungsgabe
nicht minder als jeder andere Künstler, nicht minder als
Maler, Musiker und Dichter. Er soll ja, was keimhaft
liegt im Drama (als dem Sprachkunstwerk), aufblühen
lassen, so überzeugend, daß jeder weiß und fühlt, der ihm
zuschaut: Ja, so ist's! Und es ist schlechterdings nicht
möglich, dem Schauspieler generelle, noch auch detail-
lierte Anweisungen zu geben, wie eine Rolle anzufassen
sei, so wenig wie man einem Maler, einem Musiker
generelle oder detaillierte Anweisungen geben kann,
wie er einen Text komponieren oder ein Gemälde an-
legen soll. . . Man vertraue in der Schauspielkunst
mehr noch als bisher der Intuition, man wird sehen, was

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