^HHegegnung mit Hebbel.
Aus: Die Beichte,
Novellen von Wilhelm von Scholz.
Ein stiller alter Maler aus der Zeit Schwinds,
ein kluger, feiner Greis, dessen ganze, lebensvolle, kunst-
erfüllte Welt aus dem Getriebe des Tages entschwunden
und in eine ruhige, abseits gelegene Wohnung zurück-
geglitten war, wo nur noch der befreundete Gast in sie
eintrat, an Möbeln, Bildern und Menschen eine längst
zum Stillstehen gekommene Zeit freundlich, wie in
Dämmern, dauern sah — dieser liebenswürdige alte
Mann, zu dessen gelegentlichen Gästen auch ich gehörte
und bei dem ich viel Vergangenheit kennen und begreifen
lernte, hat mir von einer persönlichen Begegnung mit
Hebbel erzählt; mir den großen Mann geschildert, der
in München seinen Freund Dingelstedt besuchte oder
damals zur Aufführung seiner „Agnes Bernauer" ge-
kommen war.
Wir hatten erst beiläufig von Hebbel gesprochen. Der
Alte hatte des hübschen, wenig bekannten Moments ge-
dacht, wie Hebbel bei irgendeinem Spaziergang in Wien
auf dem anderen Fußsteig Grillparzer gehen sieht und
mit leiser Ergriffenheit zu seinem Begleiter sagt: „Ein
Unsterblicher!" Mir fiel auf, daß wir beide in anderem
Tone von dem Dichter sprachen. Kühler, kritischer
klangen die Worte des alten Mannes, der Hebbels
jüngerer Zeitgenosse gewesen war und ihn immer noch
als Zeitgenosse sah, das heißt: als irrenden, fehlenden
Mitmenschen; wahrend er mir nur mit seinem Wesent-
lichen, Zeitlosen vor Augen stand.
Dann kam der alte Mann auf die Begegnung selbst.
Ganz unerwartet war der große Dichter plötzlich in seine
Stube getreten. Er liebte es auf Reisen und in fremden
Städten, auch Menschen aufzusuchen, zu denen ihn kein
praktischer Zweck führte, mit denen ihn manchmal nichts
als der Zufall flüchtigen Kennenlernens verband. Dann
kam er unvermittelt, unvermutet; der andere trat für
eine Stunde in den Kräftekreis des Hebbelschen Geistes.
Die Beziehung erlosch so rasch wieder, wie sie angeknüpft
worden war; und in der Seele des Dichters blieb viel-
leicht nur ein Wort, eine Gebärde, ein Gesichtsausdruck
oder der Umriß eines Menschen zurück — Eindrücke, die
ihm, dann schon ohne Namen, wiederkommen mochten,
wenn aus seinem Innern Gestalten und Charaktere
herausdrängten.
„Ich war erfreut und erstaunt", sagte der Alte, „als
ich im Dunkel des Flurs die große Gestalt des Dichters
mit der mächtigen Stirne erkannte, und mag sehr ver-
legen gewesen sein. Meine Verlegenheit schwand aber
bald, als er ein paar Worte gesprochen hatte. Während
er in dem Künstlerkreise, in dem ich ihn kennen gelernt
hatte, sich unnahbar verschlossen und hoheitsvoll-abseitig
gezeigt hatte, war er jetzt harmlos-natürlich, ja fast ein
wenig unbeholfen im Gespräch, schwieg mehrmals
lächelnd und sah sich dann in meinem Zimmer um. Er
betrachtete alles, was an Bildern und Zeichnungen von
mir herumhing, genau und schien bei mancher gezeich-
neten kleinen Szene in schaffendes Sinnen zu versinken.
Ich glaube, daß er gar nicht darauf achtete, wie sie ge-
zeichnet waren, daß er nur irgendeinen dichterischen Sinn
aus ihnen herauslas. Im Basler Museum hängt ein
allegorisches Figurenbild von mir: „Der Dreißigjährige
Krieg"; das hatte ich damals auf der Staffelei stehen. Es
beschäftigte ihn am längsten. Im Vordergrund — unter-
halb der Fürsten-, Staatsmänner- und Heerführer-
Gruppen, am Fuße der Stufen, die die Gestaltenver-
sammlung tragen, sitzen zwei symbolische Wesen: die
Pest und der Tod; und zwischen ihnen liegt ein schlum-
merndes Kind, die neue unschuldige Zukunft nach der
Zeit der Greuel. Hebbel, dessen zärtliches Familien-
gefühl ja bekannt ist, sah immer auf das Kind zwischen
den Unholden. Mir war, als trat eine Trane in sein
Auge; mochte ihm seine Kindheit und Jugend vor
Augen stehen, mochte er an seine, von ihm so sehr ge-
liebte kleine Tochter denken. Endlich sagte er: „Hier
haben Sie das tragische Gesetz der Welt dargestellt. Das
schuldlose, schlummernde Kind wird groß. Es wächst
hinein zwischen die längst schuldigen Alteren, es wird im
Umgänge mit ihnen ebenso schuldig, es vergißt selbst den
Schlummer seiner reinen göttlichen Herkunft. Es steigt
auf zwischen die Greuel, die Sie da gemalt haben,
zwischen Pest und Tod, und in den Kreis verschlagener,
heimtückischer, unredlicher Machtmenschen, die hier vor
den rauchenden Trümmern stehen. Ihr Bild ergreift
mich deshalb so, weil es, damit diese Tragödie zustande-
kommt, nicht erst eines dreißigjährigen Krieges bedarf."
Dann wurde sein Blick abwesend, und es schien, als
nähme er nun von dem kurzen Besuch so viel mit, daß
er ihm nicht ganz unlohnend scheinen mochte. Er schrieb
sich etwas auf und fragte mich, ob ich abends wieder in
den Künstlerkreis kommen würde, wo wir uns durch
Dingelstedt kennen gelernt hatten.
Viele Jahrzehnte lag diese Begegnung zurück. Aber
der Alte erzählte mit dem Ton und der Gebärde der Nähe
so, als ob sie gestern gewesen sein konnte. Und das war
sie für ihn auch. Es gibt eine Stufe hohen Alters, wo
alles Gewesene fast gleichzeitig wird, wo dem Greise
fast ununterscheidbar belanglos ist, wie weit etwas zurück-
liegt. Dieser Schauer des Gewesenseins, der von dem
alten Manne kam, ließ mich einen Moment wie Halt
suchend zurücklehnen und die Augen schließen.
Da sprach er noch von dem Ende des kurzen Besuches,
das ihm großen Eindruck gemacht hatte und in dem Heb-
bels gelegentliches Berserkertum hervortrat — wenn
nicht, was der Erzähler offen ließ, Hebbel von seinem
Freunde Dingelstedt eine gewisse ironische Art ange-
nommen haben mochte, mit der er jüngere Bewunderer
freundlich zum besten hatte, indem er seine bekannten
Eigentümlichkeiten übertrieb. Hebel sprach davon, wie
sein Töchterchen sich an einer Stuhlkante eine Brausche
geschlagen hatte, und fuhr dann, aufspringend, fort:
„Sie begreifen doch, daß ich den Stuhl ergriff und in
tausend Stücke zertrümmerte?!"
Der Erzähler, der mir schon vorher eindrücklich und
nachahmend die Gestalt und Gehabensart Hebbels ge-
schildert hatte, nahm bei diesen Worten, wie ein Schau-
spieler, eine ihm fremde herrische, zornige Haltung und
einen großen, gebieterischen Gesichtsausdruck an. Seine
Blicke funkelten. Ganz lebendig, das fühlte ich, stand das
Erinnerungsbild vor ihm, ja um ihn. Sein Auge, das
Aus: Die Beichte,
Novellen von Wilhelm von Scholz.
Ein stiller alter Maler aus der Zeit Schwinds,
ein kluger, feiner Greis, dessen ganze, lebensvolle, kunst-
erfüllte Welt aus dem Getriebe des Tages entschwunden
und in eine ruhige, abseits gelegene Wohnung zurück-
geglitten war, wo nur noch der befreundete Gast in sie
eintrat, an Möbeln, Bildern und Menschen eine längst
zum Stillstehen gekommene Zeit freundlich, wie in
Dämmern, dauern sah — dieser liebenswürdige alte
Mann, zu dessen gelegentlichen Gästen auch ich gehörte
und bei dem ich viel Vergangenheit kennen und begreifen
lernte, hat mir von einer persönlichen Begegnung mit
Hebbel erzählt; mir den großen Mann geschildert, der
in München seinen Freund Dingelstedt besuchte oder
damals zur Aufführung seiner „Agnes Bernauer" ge-
kommen war.
Wir hatten erst beiläufig von Hebbel gesprochen. Der
Alte hatte des hübschen, wenig bekannten Moments ge-
dacht, wie Hebbel bei irgendeinem Spaziergang in Wien
auf dem anderen Fußsteig Grillparzer gehen sieht und
mit leiser Ergriffenheit zu seinem Begleiter sagt: „Ein
Unsterblicher!" Mir fiel auf, daß wir beide in anderem
Tone von dem Dichter sprachen. Kühler, kritischer
klangen die Worte des alten Mannes, der Hebbels
jüngerer Zeitgenosse gewesen war und ihn immer noch
als Zeitgenosse sah, das heißt: als irrenden, fehlenden
Mitmenschen; wahrend er mir nur mit seinem Wesent-
lichen, Zeitlosen vor Augen stand.
Dann kam der alte Mann auf die Begegnung selbst.
Ganz unerwartet war der große Dichter plötzlich in seine
Stube getreten. Er liebte es auf Reisen und in fremden
Städten, auch Menschen aufzusuchen, zu denen ihn kein
praktischer Zweck führte, mit denen ihn manchmal nichts
als der Zufall flüchtigen Kennenlernens verband. Dann
kam er unvermittelt, unvermutet; der andere trat für
eine Stunde in den Kräftekreis des Hebbelschen Geistes.
Die Beziehung erlosch so rasch wieder, wie sie angeknüpft
worden war; und in der Seele des Dichters blieb viel-
leicht nur ein Wort, eine Gebärde, ein Gesichtsausdruck
oder der Umriß eines Menschen zurück — Eindrücke, die
ihm, dann schon ohne Namen, wiederkommen mochten,
wenn aus seinem Innern Gestalten und Charaktere
herausdrängten.
„Ich war erfreut und erstaunt", sagte der Alte, „als
ich im Dunkel des Flurs die große Gestalt des Dichters
mit der mächtigen Stirne erkannte, und mag sehr ver-
legen gewesen sein. Meine Verlegenheit schwand aber
bald, als er ein paar Worte gesprochen hatte. Während
er in dem Künstlerkreise, in dem ich ihn kennen gelernt
hatte, sich unnahbar verschlossen und hoheitsvoll-abseitig
gezeigt hatte, war er jetzt harmlos-natürlich, ja fast ein
wenig unbeholfen im Gespräch, schwieg mehrmals
lächelnd und sah sich dann in meinem Zimmer um. Er
betrachtete alles, was an Bildern und Zeichnungen von
mir herumhing, genau und schien bei mancher gezeich-
neten kleinen Szene in schaffendes Sinnen zu versinken.
Ich glaube, daß er gar nicht darauf achtete, wie sie ge-
zeichnet waren, daß er nur irgendeinen dichterischen Sinn
aus ihnen herauslas. Im Basler Museum hängt ein
allegorisches Figurenbild von mir: „Der Dreißigjährige
Krieg"; das hatte ich damals auf der Staffelei stehen. Es
beschäftigte ihn am längsten. Im Vordergrund — unter-
halb der Fürsten-, Staatsmänner- und Heerführer-
Gruppen, am Fuße der Stufen, die die Gestaltenver-
sammlung tragen, sitzen zwei symbolische Wesen: die
Pest und der Tod; und zwischen ihnen liegt ein schlum-
merndes Kind, die neue unschuldige Zukunft nach der
Zeit der Greuel. Hebbel, dessen zärtliches Familien-
gefühl ja bekannt ist, sah immer auf das Kind zwischen
den Unholden. Mir war, als trat eine Trane in sein
Auge; mochte ihm seine Kindheit und Jugend vor
Augen stehen, mochte er an seine, von ihm so sehr ge-
liebte kleine Tochter denken. Endlich sagte er: „Hier
haben Sie das tragische Gesetz der Welt dargestellt. Das
schuldlose, schlummernde Kind wird groß. Es wächst
hinein zwischen die längst schuldigen Alteren, es wird im
Umgänge mit ihnen ebenso schuldig, es vergißt selbst den
Schlummer seiner reinen göttlichen Herkunft. Es steigt
auf zwischen die Greuel, die Sie da gemalt haben,
zwischen Pest und Tod, und in den Kreis verschlagener,
heimtückischer, unredlicher Machtmenschen, die hier vor
den rauchenden Trümmern stehen. Ihr Bild ergreift
mich deshalb so, weil es, damit diese Tragödie zustande-
kommt, nicht erst eines dreißigjährigen Krieges bedarf."
Dann wurde sein Blick abwesend, und es schien, als
nähme er nun von dem kurzen Besuch so viel mit, daß
er ihm nicht ganz unlohnend scheinen mochte. Er schrieb
sich etwas auf und fragte mich, ob ich abends wieder in
den Künstlerkreis kommen würde, wo wir uns durch
Dingelstedt kennen gelernt hatten.
Viele Jahrzehnte lag diese Begegnung zurück. Aber
der Alte erzählte mit dem Ton und der Gebärde der Nähe
so, als ob sie gestern gewesen sein konnte. Und das war
sie für ihn auch. Es gibt eine Stufe hohen Alters, wo
alles Gewesene fast gleichzeitig wird, wo dem Greise
fast ununterscheidbar belanglos ist, wie weit etwas zurück-
liegt. Dieser Schauer des Gewesenseins, der von dem
alten Manne kam, ließ mich einen Moment wie Halt
suchend zurücklehnen und die Augen schließen.
Da sprach er noch von dem Ende des kurzen Besuches,
das ihm großen Eindruck gemacht hatte und in dem Heb-
bels gelegentliches Berserkertum hervortrat — wenn
nicht, was der Erzähler offen ließ, Hebbel von seinem
Freunde Dingelstedt eine gewisse ironische Art ange-
nommen haben mochte, mit der er jüngere Bewunderer
freundlich zum besten hatte, indem er seine bekannten
Eigentümlichkeiten übertrieb. Hebel sprach davon, wie
sein Töchterchen sich an einer Stuhlkante eine Brausche
geschlagen hatte, und fuhr dann, aufspringend, fort:
„Sie begreifen doch, daß ich den Stuhl ergriff und in
tausend Stücke zertrümmerte?!"
Der Erzähler, der mir schon vorher eindrücklich und
nachahmend die Gestalt und Gehabensart Hebbels ge-
schildert hatte, nahm bei diesen Worten, wie ein Schau-
spieler, eine ihm fremde herrische, zornige Haltung und
einen großen, gebieterischen Gesichtsausdruck an. Seine
Blicke funkelten. Ganz lebendig, das fühlte ich, stand das
Erinnerungsbild vor ihm, ja um ihn. Sein Auge, das