Mar Beckmann.
sich ihm unverlierbar ein. Nun ist cs mit einem Male da,
was er von jeher brauchte, um sich künstlerisch zu voll-
enden. Die Zeit gebiert aus ihrem Schoße Ereignisse von
furchtbarer Größe, und alle Menschen erleben gemeinsam
dasselbe entsetzliche Los. Ein Kontakt zwischen Stoff
und Seele entsteht, wie er nur in früheren längst ver-
gangenen Jahrhunderten einmal vorhanden gewesen
war. Die Hölle hat sich aufgetan, und jeder weiß, daß
er in der Hölle lebt. Das Sichtbare, das vordem will-
kürhaft wahrgenommcn, in beliebiger Weise verarbeitet
und gedeutet werden konnte, zeigt sich jetzt in ganz be-
stimmter Gestalt, Ideen und Visionen bilden sich ihm
ein, ohne von weither zugetragen zu werden, der Mensch
strahlt wieder seine Gefühle, und das heißt hier seine
Leiden, in die Dinge aus, und die Dinge werden zu
allgemeinverständlichen Symbolen menschlichen Leidens.
Wohlan, es gilt die Hölle zu malen!
-X-
Es war nicht zu erwarten, daß Beckmann unter die
Expressionisten ging. Was lag ihm an seinem Ich, daß
eres unter Verzicht auf die Gegen¬
standswelt rein hätte ausdrücken
wollen? Jetzt, wo die Welt da
draußen sich in ihrer fürchter-
lichen Sinnlosigkeit deutlich kund¬
gab, kam es nur umso mehr darauf
an, sie so zu sehen wie sie ist und
möglichst die persönliche Empfin-
dung bei ihrer Betrachtung auszu-
schalten. Unter Vermeidung jeder
Eigcnregung das höllische Sein der
unerlösten Welt in komprimier-
tester Weise darzustellen: das war
die Aufgabe, die sich dem Künstler
bot. Mußte er früher die Begeben¬
heiten erfinden und das Ungewöhn¬
liche fern von der Herdenstraße
aufsuchen, so braucht er jetzt nur
mit dem Stift oder Pinsel in der
Hand das abzubilden, was offen
am Tag liegt und sich an jeder¬
mann herandrängt. Die tausend
Schrecken der Straße werden ihm
offenbar. Menschen, die sich in:
Innersten fremd sind, hasten an¬
einander vorbei oder verdichten sich
zu großen vom Zufall zusammen-
gewürfclten'Haufen (vgl. Abb. 2).
Sie treffen sich in Gesellschaften
und hocken in den Cafes, diese
Larven von Männern, Weibern,
Kindern, aber trotz der räumlichen
Nähe schlingt sich kein Band von
Seele zu Seele, jeder bleibt viel-
mehr mit sich und seinem Schicksal
allein, und die einzige Gemeinsam¬
keit, die sie alle miteinander ver-
knüpft, ist der Mangel an Gemein-
samkeit und das dunkle Bewußtsein
gähnender innerer Leere. Immer
wieder gestaltet Beckmann, in
Radierungen und Lithographien
zumal, das wilde Chaos, das zwischen wankenden Häusern
auf Straßen und Plätzen sich entrollt. Hohes und
Niedriges, Augen der Qual, zupackende Hände, schreiende
Münder, geile Dirnengesichter, erstorbene Masken, bestia-
lische Fratzen quirlen durcheinander: ein entsetzliches
Getümmel, über dem kein Stern sich je entzündet.
Scheinbar unbewegt durchschreitet der Maler starren
Blickes diese Höllenstraßen des Aufruhrs und beobachtet
stumm, wie jeder sein Elend hinausbrüllt, ohne dein:
Nächsten selbst ein Ohr zu finden. Er besucht die Kaba-
retts, die Bars und die Weindielen und wird überall
zum Zuschauer des gleichen Schauspiels: auch hier ein
Gewoge von Begierden, ein wechselseitiges Suchen, das
zu keiner Vereinigung führt, ein wirres Gemenge
taumelnder Dinge und verzweifelter Menschenwesen.
Schwer lasten Schuld und Sünde auf diesem verirrten
Geschlecht. Mit der Vertreibung aus dem Paradies
sind wir eine Beute von Dämonen der Tiefe geworden
und unerreichbar bleibt uns fürder der Glanz, in dem
vielleicht vor unvordenklichen Jahrtausenden einmal eine
Mar Beckmann. Abb. Z: Der Hunger (aus der „Hölle", l?lö, Lithographie).
sich ihm unverlierbar ein. Nun ist cs mit einem Male da,
was er von jeher brauchte, um sich künstlerisch zu voll-
enden. Die Zeit gebiert aus ihrem Schoße Ereignisse von
furchtbarer Größe, und alle Menschen erleben gemeinsam
dasselbe entsetzliche Los. Ein Kontakt zwischen Stoff
und Seele entsteht, wie er nur in früheren längst ver-
gangenen Jahrhunderten einmal vorhanden gewesen
war. Die Hölle hat sich aufgetan, und jeder weiß, daß
er in der Hölle lebt. Das Sichtbare, das vordem will-
kürhaft wahrgenommcn, in beliebiger Weise verarbeitet
und gedeutet werden konnte, zeigt sich jetzt in ganz be-
stimmter Gestalt, Ideen und Visionen bilden sich ihm
ein, ohne von weither zugetragen zu werden, der Mensch
strahlt wieder seine Gefühle, und das heißt hier seine
Leiden, in die Dinge aus, und die Dinge werden zu
allgemeinverständlichen Symbolen menschlichen Leidens.
Wohlan, es gilt die Hölle zu malen!
-X-
Es war nicht zu erwarten, daß Beckmann unter die
Expressionisten ging. Was lag ihm an seinem Ich, daß
eres unter Verzicht auf die Gegen¬
standswelt rein hätte ausdrücken
wollen? Jetzt, wo die Welt da
draußen sich in ihrer fürchter-
lichen Sinnlosigkeit deutlich kund¬
gab, kam es nur umso mehr darauf
an, sie so zu sehen wie sie ist und
möglichst die persönliche Empfin-
dung bei ihrer Betrachtung auszu-
schalten. Unter Vermeidung jeder
Eigcnregung das höllische Sein der
unerlösten Welt in komprimier-
tester Weise darzustellen: das war
die Aufgabe, die sich dem Künstler
bot. Mußte er früher die Begeben¬
heiten erfinden und das Ungewöhn¬
liche fern von der Herdenstraße
aufsuchen, so braucht er jetzt nur
mit dem Stift oder Pinsel in der
Hand das abzubilden, was offen
am Tag liegt und sich an jeder¬
mann herandrängt. Die tausend
Schrecken der Straße werden ihm
offenbar. Menschen, die sich in:
Innersten fremd sind, hasten an¬
einander vorbei oder verdichten sich
zu großen vom Zufall zusammen-
gewürfclten'Haufen (vgl. Abb. 2).
Sie treffen sich in Gesellschaften
und hocken in den Cafes, diese
Larven von Männern, Weibern,
Kindern, aber trotz der räumlichen
Nähe schlingt sich kein Band von
Seele zu Seele, jeder bleibt viel-
mehr mit sich und seinem Schicksal
allein, und die einzige Gemeinsam¬
keit, die sie alle miteinander ver-
knüpft, ist der Mangel an Gemein-
samkeit und das dunkle Bewußtsein
gähnender innerer Leere. Immer
wieder gestaltet Beckmann, in
Radierungen und Lithographien
zumal, das wilde Chaos, das zwischen wankenden Häusern
auf Straßen und Plätzen sich entrollt. Hohes und
Niedriges, Augen der Qual, zupackende Hände, schreiende
Münder, geile Dirnengesichter, erstorbene Masken, bestia-
lische Fratzen quirlen durcheinander: ein entsetzliches
Getümmel, über dem kein Stern sich je entzündet.
Scheinbar unbewegt durchschreitet der Maler starren
Blickes diese Höllenstraßen des Aufruhrs und beobachtet
stumm, wie jeder sein Elend hinausbrüllt, ohne dein:
Nächsten selbst ein Ohr zu finden. Er besucht die Kaba-
retts, die Bars und die Weindielen und wird überall
zum Zuschauer des gleichen Schauspiels: auch hier ein
Gewoge von Begierden, ein wechselseitiges Suchen, das
zu keiner Vereinigung führt, ein wirres Gemenge
taumelnder Dinge und verzweifelter Menschenwesen.
Schwer lasten Schuld und Sünde auf diesem verirrten
Geschlecht. Mit der Vertreibung aus dem Paradies
sind wir eine Beute von Dämonen der Tiefe geworden
und unerreichbar bleibt uns fürder der Glanz, in dem
vielleicht vor unvordenklichen Jahrtausenden einmal eine
Mar Beckmann. Abb. Z: Der Hunger (aus der „Hölle", l?lö, Lithographie).