Abb. s: Kopf des Johannes vom Westportal der Frauenkirche in Rottweil.
Wirkung von leidenschaftlicher Bewegung dienstbar ge-
macht, aber ein sicheres Gefühl ist im Lebensboden ge-
blieben, ein deutscher Meister hat diese deutschen Köpfe
bewußt deutsch gestaltet. Der Johanneskopf trägt seine
Heiligenbedeutung fast humoristisch, so bauernhaft und
unjohanneisch wie möglich sieht er auf die Straße hinunter;
und wenn der Prophet seiner Rolle bewußter ist, auch
dieses Bewußtsein hat ihm nichts von seiner Herkunft
genommen. Als ob es Köpfe von einem heutigen
Bauerntheater wären, so deutsche Wirklichkeit sind sie.
Alles aber, was in den sieben bisher behandelten
Köpfen als Realismus und bewußte Gestaltung von
deutscher Herkunft spricht, wird übertroffen durch die
Maria vom Vesperbild in Radolfzell (Abb. 8). Ihre
verstümmelten Arme haben den Heiland und Sohn ver-
loren, den sie ehemals als Leichnam quer über dem
Schoß hielten; nichts als die statuarische Ruhe eines
Mädchenkmpers ini klassischen Ge-
wand und ein Kopf von irdischster
Schönheit ist übriggeblieben. Die
Aufnahme, schräg von unten, hat die
Bewegung verschoben; in Wirklich-
keit ist der Kopf seitlich gesenkt, über
den toten Sohn hinausblickend. Aber
auch dann ist es garnicht die Schmer-
zensmutter, ihr süßes Gesicht hat noch
keine Tragödie erfahren. Irgendwer
hat ihr den toten Heiland auf den Schoß
gelegt und nun halt sie ihn, allen
Schmerz der Mutter im jungfräulichen
Mitgefühl ahnend. Auch Himmels-
königin ist sie nicht, keinerlei Glorie
umstrahlt sie, alles, was sie ist, ist sie
durch sich und durch die Liebe, mit der
eine große Künstlerhand ein Menschen-
kind, ein Mädchen aus Radolfzell bil¬
dete. Edle Einfalt und stille Größe,
alles was die Nach-Winckelmannsche
Bildnerkunst wollte und nicht entfernt
erreichte: Griechentum der Gestaltung
und dennoch deutscheste Herkunft, ist
hier vereinigt. Das Vesperbild mit
all seinem Sinnbild war nur ein Vor-
wand, ein Stück Menschentum zu
bilden, mehr noch: in einem Stück
Menschentum, in einem Mädchen aus
Radolfzell ein Ideal deutscher Körper-
lichkeit zu gestalten. Eine unsagbare
Liebe muß hier seine Auslösung erfah-
ren haben; man spürt die warmen
Augen des Künstlers, wie sie auf dieser
Mädchenblüte lagen. So ist nicht nurein
Kunstwerk von höchstem Rang sondern
ein Menschenbild ewig geworden, darin
wir beglückt unser Volkstum erkennen.
Nur die Elisabeth von Eriskirch
(1420) und der Johannes aus Rottweil
(1430) werden von Baum in den An-
fang des fünfzehnten Jahrhunderts
datiert; alle anderen Köpfe stammen
aus dem Anfang des vierzehnten (1330
bis 1340): man muß nur einmal aus¬
denken, was dies bedeutet. Hundert Jahre vor Ghiberti,
zweihundert Jahre vor Dürer stand gotische Bildnerkunst
auf dieser Höhe: germanischer Geist hatte das Vorbild
der Antike ausgenommen und sich zur eigensten Dar-
stellung aufgerungen, bis die Renaissance kam, die
— werden wir uns dessen nur recht klar — in ihrer
Tendenz Nachahmung und gegen die Kunst dieses
Mädchens von Radolfzell bis auf ganz wenige Dinge
eine Veräußerlichung war, weil sie — dies ist der
entscheidende Punkt — sentimentale Kunst gegen die
Naivität der gotischen Bildnerci bedeutet. Die her-
kömmliche Wissenschaft hat uns ein Jahrhundert lang
das Gegenteil gelehrt: sie hat über alles gotische Wesen
den Schleier einer verstiegenen Frömmigkeit, einer
unnatürlichen Inbrunst gelegt, der im Griechentum
und in seiner sogenannten Wiedergeburt die Natürlichkeit
entgegenstand. In Wirklichkeit hat das Vorbild der
ui
Wirkung von leidenschaftlicher Bewegung dienstbar ge-
macht, aber ein sicheres Gefühl ist im Lebensboden ge-
blieben, ein deutscher Meister hat diese deutschen Köpfe
bewußt deutsch gestaltet. Der Johanneskopf trägt seine
Heiligenbedeutung fast humoristisch, so bauernhaft und
unjohanneisch wie möglich sieht er auf die Straße hinunter;
und wenn der Prophet seiner Rolle bewußter ist, auch
dieses Bewußtsein hat ihm nichts von seiner Herkunft
genommen. Als ob es Köpfe von einem heutigen
Bauerntheater wären, so deutsche Wirklichkeit sind sie.
Alles aber, was in den sieben bisher behandelten
Köpfen als Realismus und bewußte Gestaltung von
deutscher Herkunft spricht, wird übertroffen durch die
Maria vom Vesperbild in Radolfzell (Abb. 8). Ihre
verstümmelten Arme haben den Heiland und Sohn ver-
loren, den sie ehemals als Leichnam quer über dem
Schoß hielten; nichts als die statuarische Ruhe eines
Mädchenkmpers ini klassischen Ge-
wand und ein Kopf von irdischster
Schönheit ist übriggeblieben. Die
Aufnahme, schräg von unten, hat die
Bewegung verschoben; in Wirklich-
keit ist der Kopf seitlich gesenkt, über
den toten Sohn hinausblickend. Aber
auch dann ist es garnicht die Schmer-
zensmutter, ihr süßes Gesicht hat noch
keine Tragödie erfahren. Irgendwer
hat ihr den toten Heiland auf den Schoß
gelegt und nun halt sie ihn, allen
Schmerz der Mutter im jungfräulichen
Mitgefühl ahnend. Auch Himmels-
königin ist sie nicht, keinerlei Glorie
umstrahlt sie, alles, was sie ist, ist sie
durch sich und durch die Liebe, mit der
eine große Künstlerhand ein Menschen-
kind, ein Mädchen aus Radolfzell bil¬
dete. Edle Einfalt und stille Größe,
alles was die Nach-Winckelmannsche
Bildnerkunst wollte und nicht entfernt
erreichte: Griechentum der Gestaltung
und dennoch deutscheste Herkunft, ist
hier vereinigt. Das Vesperbild mit
all seinem Sinnbild war nur ein Vor-
wand, ein Stück Menschentum zu
bilden, mehr noch: in einem Stück
Menschentum, in einem Mädchen aus
Radolfzell ein Ideal deutscher Körper-
lichkeit zu gestalten. Eine unsagbare
Liebe muß hier seine Auslösung erfah-
ren haben; man spürt die warmen
Augen des Künstlers, wie sie auf dieser
Mädchenblüte lagen. So ist nicht nurein
Kunstwerk von höchstem Rang sondern
ein Menschenbild ewig geworden, darin
wir beglückt unser Volkstum erkennen.
Nur die Elisabeth von Eriskirch
(1420) und der Johannes aus Rottweil
(1430) werden von Baum in den An-
fang des fünfzehnten Jahrhunderts
datiert; alle anderen Köpfe stammen
aus dem Anfang des vierzehnten (1330
bis 1340): man muß nur einmal aus¬
denken, was dies bedeutet. Hundert Jahre vor Ghiberti,
zweihundert Jahre vor Dürer stand gotische Bildnerkunst
auf dieser Höhe: germanischer Geist hatte das Vorbild
der Antike ausgenommen und sich zur eigensten Dar-
stellung aufgerungen, bis die Renaissance kam, die
— werden wir uns dessen nur recht klar — in ihrer
Tendenz Nachahmung und gegen die Kunst dieses
Mädchens von Radolfzell bis auf ganz wenige Dinge
eine Veräußerlichung war, weil sie — dies ist der
entscheidende Punkt — sentimentale Kunst gegen die
Naivität der gotischen Bildnerci bedeutet. Die her-
kömmliche Wissenschaft hat uns ein Jahrhundert lang
das Gegenteil gelehrt: sie hat über alles gotische Wesen
den Schleier einer verstiegenen Frömmigkeit, einer
unnatürlichen Inbrunst gelegt, der im Griechentum
und in seiner sogenannten Wiedergeburt die Natürlichkeit
entgegenstand. In Wirklichkeit hat das Vorbild der
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