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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 31.1921

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Heft 3
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Schäfer, Wilhelm: Das Mädchen von Radolfzell: ein gotisches Bildwerk aus Schwaben
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https://doi.org/10.11588/diglit.26485#0126

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Das Mädchen von Radolfzell.

standen. Der ErpressionismuS ist übersteigerter Marses,
d. h. Ahnung und hitzige Bemühung um höchste Kunst;
aber sein eigentlicher Anlaß war nicht dieser große und
edle Sucher, sondern die Selbstgewachsenheit naiver
Künstler in unserer Zeit: Cszanne und Hodler, und trotz
allem auch van Gogh. Sie wurden groß, weil sie den
Boden dec Sinnlichkeit fanden, weil sie in einer Zeit
des internationalen Geistes erdgeboren und darum
volkstümlich blieben. Eine spatere Zeit wird sie so er-
kennen und schätzen; uns können sie die Lehre geben,
daß die Kunst aus einem anderen Boden wächst als dem
des Intellekts, ja, daß er ihr Todfeind ist. Der tiefste
Sinn unserer Zeit aber ist die Befreiung von dicsepn
wahrhaften Gift des Lebens; ist das Ringen darum nicht
vergeblich, so werden wir auch wiedereinen Lebensboden
der Kunst haben. Dieses Ringen freilich von vornherein
als vergeb¬
licherklären,
heißtimtief¬
sten Sinn re¬
signieren,
heißt sich ei¬
ner Zeit als
angehörig
erklären, die
an sich selber
sterben will,
um — das
ist die Ewig¬
keit des Le¬
bens — neu
zu werden;
heißt un¬
gläubig und
gottlos sein.
So war es
unrein Weg,
nicht ein
Ziel, in die¬
sen schwäbi¬
schen Bild¬
werken deut¬
sche Köpfe
zu suchen.
Es ist eine
Selbstver¬
ständlichkeit,
daß die auf
deutschem
Boden ge¬
wachsenen
Kunstwerke
Zeugnisse
deutschen
Lebens sein
müssen.
Aber es ist
nicht über¬
flüssig, son¬
dern im tief¬
sten Sinn

notwendig, daß wir uns dieses Lebensgrundes wieder
bewußt werden, nicht um in irgendeiner Form Deutsch-
tümlei zu treiben, sondern um endlich wieder Kunst
als daS zu finden, was sie ist, Verewigung unseres Da-
seins. Wollen wir das Glück der griechischen Bildner
am stärksten formulieren, so ist es dies, daß sie ihrer
Sinnlichkeit in einer Weise froh waren, die uns wie
ein Märchen anmutet. Nicht nur im Evangelium son-
dern überall im Leben und am innigsten in der Kunst
gilt das Wort, daß wir nicht ins Evangelium kommen,
so wir nicht werden wie die Kinder. Dies aber ver-
mochte der Meister, der das Mädchen von Radolfzell
bildete. Seien wir uns dessen nur einmal klar: alles,
was wir von der Spiritualität des deutschen Mittelalters
sagen, alles, was wir von seiner Verkehrung des
Daseins wissen, muß vor diesem Bildwerk seinen Irrtum
erkennen: es
ist nicht aus
der Zeit im
Sinn ihres
Intellekts,
sondern ge-
gen sie ge-
boren, ge-
nau so wie
die deutsche
Mystik nicht
aus,sondcrn
gegen die
Scholastik
geboren
wurde. Die
Augen, nicht
der spekulie-
rende Geist,
sinddasErb-
teil des
Künstlers,
und alles,
was er von
geistigen
Dingen
brauchen
kann, ist die
Liebe, das
zu umfassen,
was seine
Augen
sehen.
Trauen wir
erst wieder
unseren Au-
gen und ler-
nen wir aus
ihnen unser
Dasein lie-
ben,soistdie
Kunst wie-
dergeboren.
W.
Schäfer.

Abb. 8: Kopf der Maria von einem Vesperbild aus Radolfzell.


Sämtliche Abbildungen sind durch gütige Erlaubnis des Verlags Or. Fischer, Augsburg, dem oben besprochenen Werk „Gotische
Bildwerke aus Schwaben" von Or. Justus Baum entnommen.
 
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