so gut gegen mich, diese Kinder, obgleich ich es nicht an ihnen ver-
diente, denn ich gab ihnen nicht alles, was ich hatte, ich zersplitterte
meine Kräfte in unnützen Träumereien und wurde leicht unwirsch
und grob, anstatt gut und hilfreich zu bleiben! Sie kamen zu mir
beim Schulanfang und streckten mir ihre Hände entgegen, um mir
Glück zu wünschen zu meinem Namenstage, und anstatt fröhlichen
Gemütes diese köstlichen Kinderwünsche in mein Herz zu tun,
fragte ich sie, ja, was sie mir denn eigentlich wünschten, was sie
sich denn unter Glück dächten? Verscheucht wichen sie dann wieder
von mir ab. Zum Überdruß, ja, zum Überdruß lagen dann auch
noch, als ich heimkam, etliche Postkarten auf dem Tisch neben dem
Suppenteller, Glückwünsche von den Kindern, die nicht einmal
den Mut hatten, mir ihre Wünsche persönlich zu sagen! Was
sollte das alles, dachte ich, was wollten sie nur: ich war ein Lehrer
wie jeder andere auch, und die anderen wurden doch zu ihrem
Namenstag auch nicht mit so viel Schnickschnack belästigt! Un-
erquicklich war mein Beruf und garstig: ich dokterte an den Kinder-
herzen herum und schusterte auf deren Kosten den Verstand zurecht,
den alle Welt pries, den der heilige Lehrplan als die große Kraft
des Lebens mir vor Augen stellte; zwölfmal im Jahre, am Sechs-
undzwanzigsten eines jeden Monats bezog ich dafür von der Kasse
mein Gehalt, die Bedürfnisse meines Herren Magens zu bestreiten!
Garstig, nicht wahr? Und so lief ich denn, ich, der ich damals
noch ein Dichter war, ein verkappter Kaiser, ein Volksbesieger, ein
Märchenmann, fort aus dem Bereich des Märchens, aus dem
Bereich der Kinder, um den Nikolausabend fern allen Freunden
und Bekannten und fern von meinen Schülern allen zu verbringen
mit meinen absonderlichen Träumen! Ich setzte mich da auf die
flachgeflossenen Ufersteine und lauschte auf das nächtliche Ge-
murmel der Wellen. Wenn die Asche meiner Zigarette ins Wasser
fiel, zischte es ganz leise, und dann war's wieder still. Auf einem
seitab liegenden Dampfer feierten die Schiffer ihren Namenspatron
und sangen ein Weilchen und spielten auf der Ziehharmonika,
doch auch diese Lieder verstummten, oder aber ich hörte sic nicht
mehr, weil meine Seele sich anderweitig erging. Oft kam der
Wind zu mir, den ich so liebe, oft der Regen, den ich so liebe, oft
der Schnee, den ich so liebe, oft der Mond, den ich so liebe, und
ganz ohne Stern bin ich nie geblieben. Meine Seele erging sich
gleich den vom Sturm gepeitschten Wolken, und ich kann doch sagen,
daß meine Kinder, die ich geflohen, wenn sie vielleicht auch schon
lange schliefen und träumten, doch heraus zu mir kamen an den Fluß
und mir deutlich sagten, was sie am Morgen nicht sagen konnten,
da sie mir Glück wünschten, lind alles Schöne, das unter Trümmer-
schlag und bewußtem Großtun doch klar in meiner Seele lag gleich
einem unerlösten Märchen, trat vor mir auf, und wenn die vielen
Glocken der Stadt die zwölfte Stunde riefen, da stand ich auf und
ging gemächlich heim, und jedes Jahr war ich weniger belastet
mit großen Wünschen an das kleine Leben.
Ich habe es schon vielmals gefunden, daß ich, um mich richtig
zu erkennen, die Stille nötig habe, den Wald, die Wüste, das Meer,
die Leere, meine Lungenkraft hinauszustoßen, ob sie stark sei und
fähig, stärker zu werden! Und da all meine Kraft einzig die Liebe
ist, muß sie besonders stark werden und frei von eigennützigen Ab-
sichten. Mein Name ist mir ein Zeichen! Ich bin aus der Stadt
fortgegangen; der Berg kam nicht zu mir, da ich kein Prophet bin,
und so ging ich halt, obwohl ich kein Prophet bin, zum Berg, und
ich kann sagen, daß der Berg auch für sterbliche Kläuse allerhand
Schätze birgt, denn zum Berg gehören Bäume, zum Berg gehört
ein Tal, zum Tal ein Bach, zu dem Bach gehören Wiesen, zu den
Wiesen getreue Herden, zu den Herden Menschen und zu den
Menschen Kinder, die mit ihren einfachen Seelen einen unechten
Nikolaus ganz leicht wieder zu einem echten machen können!
Heute verlief der Nikolaustag also: als ich des Morgens er-
wachte, überschütteten mich Frau und Kind mit ihren Küssen.
Der Schulsaal unten war mit Fichtenreisern geschmückt, der Herbst
hatte noch ein paar Blumen aufgehoben für meinen Namenstag:
eine Rose, ein Häuflein Reseden und blaue Astern, die am Himmel
sich blau gestrichen hatten. Dazu stellt sich noch ein Primelstöckchen
aus dem Treibhaus der Stadt, das zwischen seinen Blättchen ein
Brieflein trägt, von ganz ungelenker Kinderhand geschrieben.
Ein Körbchen steht auf dem Tisch, vollbeladen mit Wal-, Erd- und
Haselnüssen, ein Körbchen mit Äpfeln steht daneben und noch eins
mit Lebkuchen aller Art. Und quer über all diesen Herrlichkeiten
liegt ein Rutenbündel, dessen Sinn ich mir deuten kann, wie ich
will! Ich kann ihn so deuten: St. Nikolaus möge mich, für all die
Unbill, die ich ehedem in der Stadt am Rhein über Kinderherzen
verhängt, nur deshalb verhängt habe ,weil meiner Seele die Liebe
mangelte, möge mich strafen! Ja, strafen! Ich will durchaus nicht
etwa das Maß der Strafe beeinflussen durch das, was ich jetzt sage!
St. Nikolaus, wenn er tagaus, tagein fünfzig, sechzig, ja noch mehr
Kinder morgens vier und nachmittags zwei Stunden lang um
sich herum gehabt hätte, sie zu belehren mit allen Errungenschaften
einer gottlos verruchten Zeit, sie zu erziehen, in einer gottlos ver-
ruchten Zeit ein aufrechter Mensch zu werden, St. Nikolaus, sage
ich, wäre vielleicht nicht ein Heiliger geworden unter diesen Um-
ständen! Sage ich! Ja, und ich darf noch etwas sagen: wir sprachen
neulich in der Religionsstunde, wie die Kirche für jeden Beruf und
Stand einen besonderen Heiligen habe: für die Zimmerleute den
Joseph, für die Dienstmägde Notburga, für die braven Jünglinge
den Aloysius, für die Schiffer, nun ja . . . und da meinte ein
Mägdelein, dessen Vater Eisenbahner ist, ob nicht auch ein heiliger
Eisenb hner existiere? Nein, entgegne ich, noch nicht! Und ein
heiliger Lehrer? meint ein anderes. Nein, auch nicht! antworte
ich, denn die großen heiligen Lehrer der Kirche, die Kirchenlehrer
und sonderlich die gelehrten heiligen Theologen, würden es doch
sicher weit von sich weisen, der Patron unserer heutigen Schul-
meister zu sein! Nein, Annelieschen, einen heiligen Lehrer gibt
es noch nicht, und wenn du mich auch noch so vertrauensselig
und überzeugt von meinen religiösen Qualitäten anguckst: es
besteht bis jetzt wirklich auch keine sichtbare Aussicht, daß einer
von meiner Gilde es dazu bringen könne! Oder meinst du gar:
ich selber?
Dem Leser aber will ich in Parenthese hinzufügen, daß auch
in dem Wunsche, für jene Unbill an Kinderherzen gerne mich ge-
straft zu sehen, daß auch darin durchaus keine entsprechenden Quali-
täten versteckt sind! Ich erkläre es ohne llmschweif: ein Heiliger
will ich nicht werden! Ich will für mein Teil die Liebe leben und
durch mein Beispiel die Liebe lehren, und dazu bedarf es weder
eines Heiligen noch eines Propheten mehr!
Ich kann aber das Rutenbündel auf meinem Schultisch auch
so deuten, daß die Kinder mich darauf Hinweisen wollten, daß ich
gleich ihnen wohl den Apfel aber auch die Rute verdient habe!
Und sie hätten mir sagen können: verwenden Sie, Herr Lehrer,
doch etwas mehr als seither ... die Rute besonders an den mittel-
großen Buben! An diesem Willi, an diesem Fritz, an diesem Adal-
bert ! Und schonen Sie, Herr Lehrer, doch etwas mehr als seither
Ihre Stimme, die ohnedies so schwach ist! Genug, genug! Ha, und
nun kommen sie, die fünfzig Kinder, stürmen in den Saal, stürmen
auf mich zu, der ich schon am Tisch sitze hinter den Herrlichkeiten
des Tages, nun drücken sie meine Hände, nun kommt unser Nest-
häkchen, das Helenele, und sagt ein Derschen von sich,-vom kleinen
Hinkelchen, das aus seinem Winkelchen kröche, nun tragen die Großen
große Gedichte vor, die ich nicht kenne, nun singen sie, nun richten
sie gar in aller Hast ein Bühnchen her und spielen mit unsagbar
naiven Gesten Hänsel und Gretel, und ich, der Lehrer, weiß nicht,
woher sie all die Geschicklichkeit nehmen und die großen Sprüche!
Ich erfahre es ja noch, denn sie können's unmöglich für sich behalten.
Drei Proben haben sie vorgenommen zu dem Feste und eine
Generalprobe! Morgen unfehlbar wird mir verraten, daß meine
seraphische Freundin die Stücke mit ihnen eingeübt habe, morgen
erfahre ich das bestimmt!
Da der Tag mit Märchenschimmer begonnen, wird er auch
so fortgeführt und beschlossen, und meine Behörde muß ein Nachsehen
üben am Nikolaustag! Ich bin sonst nicht auf Kommando zum
Märchenerzählen eingestimmt und zu anderen schönen Dingen,
aber dieser Tag gehört nun schon seit etlichen Jahren den schönsten
Dingen deS Herzens, und der Herr Verstand bleibt heute in seiner
Dunkelkammer. Die Kinder sitzen um mich herum, ich erzähle,
sie erzählen, wir singen, und am Nachmittag gehen wir in den Wald,
und die Frau Lehrer geht auch mit. „Liebe Frau Lehrer!" so
schreiben die Kinder: „Wir gehen heute mittag spazieren in den Wald,
gehst du mit uns? Und darf der kleine Friedemann auch mitgehen?
Gruß einstweilen vom Christkindchen!" Und ich, der Lehrer,
schreibe unten dran: „Und vom Nikolaus!"
So, jetzt ist's aber genug für heute! Dichter bin ich nicht,
Zar oder Volksbesieger auch nicht, will ich auch nicht sein und nicht
werden! Aber ein Schulmeister bin ich nach dem Herzen Gottes,
ein Kinderfreund und Kindernarr, in kleinem Kreis ein Träger
der Liebe, würdig vielleicht doch des großen Heiligen, dessen Namen
ich im Schilde führe!
Ha, fast hätt ich's vergessen: Auch aus der Stadt am Rhein
liegen hundert Glückwünsche da!
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diente, denn ich gab ihnen nicht alles, was ich hatte, ich zersplitterte
meine Kräfte in unnützen Träumereien und wurde leicht unwirsch
und grob, anstatt gut und hilfreich zu bleiben! Sie kamen zu mir
beim Schulanfang und streckten mir ihre Hände entgegen, um mir
Glück zu wünschen zu meinem Namenstage, und anstatt fröhlichen
Gemütes diese köstlichen Kinderwünsche in mein Herz zu tun,
fragte ich sie, ja, was sie mir denn eigentlich wünschten, was sie
sich denn unter Glück dächten? Verscheucht wichen sie dann wieder
von mir ab. Zum Überdruß, ja, zum Überdruß lagen dann auch
noch, als ich heimkam, etliche Postkarten auf dem Tisch neben dem
Suppenteller, Glückwünsche von den Kindern, die nicht einmal
den Mut hatten, mir ihre Wünsche persönlich zu sagen! Was
sollte das alles, dachte ich, was wollten sie nur: ich war ein Lehrer
wie jeder andere auch, und die anderen wurden doch zu ihrem
Namenstag auch nicht mit so viel Schnickschnack belästigt! Un-
erquicklich war mein Beruf und garstig: ich dokterte an den Kinder-
herzen herum und schusterte auf deren Kosten den Verstand zurecht,
den alle Welt pries, den der heilige Lehrplan als die große Kraft
des Lebens mir vor Augen stellte; zwölfmal im Jahre, am Sechs-
undzwanzigsten eines jeden Monats bezog ich dafür von der Kasse
mein Gehalt, die Bedürfnisse meines Herren Magens zu bestreiten!
Garstig, nicht wahr? Und so lief ich denn, ich, der ich damals
noch ein Dichter war, ein verkappter Kaiser, ein Volksbesieger, ein
Märchenmann, fort aus dem Bereich des Märchens, aus dem
Bereich der Kinder, um den Nikolausabend fern allen Freunden
und Bekannten und fern von meinen Schülern allen zu verbringen
mit meinen absonderlichen Träumen! Ich setzte mich da auf die
flachgeflossenen Ufersteine und lauschte auf das nächtliche Ge-
murmel der Wellen. Wenn die Asche meiner Zigarette ins Wasser
fiel, zischte es ganz leise, und dann war's wieder still. Auf einem
seitab liegenden Dampfer feierten die Schiffer ihren Namenspatron
und sangen ein Weilchen und spielten auf der Ziehharmonika,
doch auch diese Lieder verstummten, oder aber ich hörte sic nicht
mehr, weil meine Seele sich anderweitig erging. Oft kam der
Wind zu mir, den ich so liebe, oft der Regen, den ich so liebe, oft
der Schnee, den ich so liebe, oft der Mond, den ich so liebe, und
ganz ohne Stern bin ich nie geblieben. Meine Seele erging sich
gleich den vom Sturm gepeitschten Wolken, und ich kann doch sagen,
daß meine Kinder, die ich geflohen, wenn sie vielleicht auch schon
lange schliefen und träumten, doch heraus zu mir kamen an den Fluß
und mir deutlich sagten, was sie am Morgen nicht sagen konnten,
da sie mir Glück wünschten, lind alles Schöne, das unter Trümmer-
schlag und bewußtem Großtun doch klar in meiner Seele lag gleich
einem unerlösten Märchen, trat vor mir auf, und wenn die vielen
Glocken der Stadt die zwölfte Stunde riefen, da stand ich auf und
ging gemächlich heim, und jedes Jahr war ich weniger belastet
mit großen Wünschen an das kleine Leben.
Ich habe es schon vielmals gefunden, daß ich, um mich richtig
zu erkennen, die Stille nötig habe, den Wald, die Wüste, das Meer,
die Leere, meine Lungenkraft hinauszustoßen, ob sie stark sei und
fähig, stärker zu werden! Und da all meine Kraft einzig die Liebe
ist, muß sie besonders stark werden und frei von eigennützigen Ab-
sichten. Mein Name ist mir ein Zeichen! Ich bin aus der Stadt
fortgegangen; der Berg kam nicht zu mir, da ich kein Prophet bin,
und so ging ich halt, obwohl ich kein Prophet bin, zum Berg, und
ich kann sagen, daß der Berg auch für sterbliche Kläuse allerhand
Schätze birgt, denn zum Berg gehören Bäume, zum Berg gehört
ein Tal, zum Tal ein Bach, zu dem Bach gehören Wiesen, zu den
Wiesen getreue Herden, zu den Herden Menschen und zu den
Menschen Kinder, die mit ihren einfachen Seelen einen unechten
Nikolaus ganz leicht wieder zu einem echten machen können!
Heute verlief der Nikolaustag also: als ich des Morgens er-
wachte, überschütteten mich Frau und Kind mit ihren Küssen.
Der Schulsaal unten war mit Fichtenreisern geschmückt, der Herbst
hatte noch ein paar Blumen aufgehoben für meinen Namenstag:
eine Rose, ein Häuflein Reseden und blaue Astern, die am Himmel
sich blau gestrichen hatten. Dazu stellt sich noch ein Primelstöckchen
aus dem Treibhaus der Stadt, das zwischen seinen Blättchen ein
Brieflein trägt, von ganz ungelenker Kinderhand geschrieben.
Ein Körbchen steht auf dem Tisch, vollbeladen mit Wal-, Erd- und
Haselnüssen, ein Körbchen mit Äpfeln steht daneben und noch eins
mit Lebkuchen aller Art. Und quer über all diesen Herrlichkeiten
liegt ein Rutenbündel, dessen Sinn ich mir deuten kann, wie ich
will! Ich kann ihn so deuten: St. Nikolaus möge mich, für all die
Unbill, die ich ehedem in der Stadt am Rhein über Kinderherzen
verhängt, nur deshalb verhängt habe ,weil meiner Seele die Liebe
mangelte, möge mich strafen! Ja, strafen! Ich will durchaus nicht
etwa das Maß der Strafe beeinflussen durch das, was ich jetzt sage!
St. Nikolaus, wenn er tagaus, tagein fünfzig, sechzig, ja noch mehr
Kinder morgens vier und nachmittags zwei Stunden lang um
sich herum gehabt hätte, sie zu belehren mit allen Errungenschaften
einer gottlos verruchten Zeit, sie zu erziehen, in einer gottlos ver-
ruchten Zeit ein aufrechter Mensch zu werden, St. Nikolaus, sage
ich, wäre vielleicht nicht ein Heiliger geworden unter diesen Um-
ständen! Sage ich! Ja, und ich darf noch etwas sagen: wir sprachen
neulich in der Religionsstunde, wie die Kirche für jeden Beruf und
Stand einen besonderen Heiligen habe: für die Zimmerleute den
Joseph, für die Dienstmägde Notburga, für die braven Jünglinge
den Aloysius, für die Schiffer, nun ja . . . und da meinte ein
Mägdelein, dessen Vater Eisenbahner ist, ob nicht auch ein heiliger
Eisenb hner existiere? Nein, entgegne ich, noch nicht! Und ein
heiliger Lehrer? meint ein anderes. Nein, auch nicht! antworte
ich, denn die großen heiligen Lehrer der Kirche, die Kirchenlehrer
und sonderlich die gelehrten heiligen Theologen, würden es doch
sicher weit von sich weisen, der Patron unserer heutigen Schul-
meister zu sein! Nein, Annelieschen, einen heiligen Lehrer gibt
es noch nicht, und wenn du mich auch noch so vertrauensselig
und überzeugt von meinen religiösen Qualitäten anguckst: es
besteht bis jetzt wirklich auch keine sichtbare Aussicht, daß einer
von meiner Gilde es dazu bringen könne! Oder meinst du gar:
ich selber?
Dem Leser aber will ich in Parenthese hinzufügen, daß auch
in dem Wunsche, für jene Unbill an Kinderherzen gerne mich ge-
straft zu sehen, daß auch darin durchaus keine entsprechenden Quali-
täten versteckt sind! Ich erkläre es ohne llmschweif: ein Heiliger
will ich nicht werden! Ich will für mein Teil die Liebe leben und
durch mein Beispiel die Liebe lehren, und dazu bedarf es weder
eines Heiligen noch eines Propheten mehr!
Ich kann aber das Rutenbündel auf meinem Schultisch auch
so deuten, daß die Kinder mich darauf Hinweisen wollten, daß ich
gleich ihnen wohl den Apfel aber auch die Rute verdient habe!
Und sie hätten mir sagen können: verwenden Sie, Herr Lehrer,
doch etwas mehr als seither ... die Rute besonders an den mittel-
großen Buben! An diesem Willi, an diesem Fritz, an diesem Adal-
bert ! Und schonen Sie, Herr Lehrer, doch etwas mehr als seither
Ihre Stimme, die ohnedies so schwach ist! Genug, genug! Ha, und
nun kommen sie, die fünfzig Kinder, stürmen in den Saal, stürmen
auf mich zu, der ich schon am Tisch sitze hinter den Herrlichkeiten
des Tages, nun drücken sie meine Hände, nun kommt unser Nest-
häkchen, das Helenele, und sagt ein Derschen von sich,-vom kleinen
Hinkelchen, das aus seinem Winkelchen kröche, nun tragen die Großen
große Gedichte vor, die ich nicht kenne, nun singen sie, nun richten
sie gar in aller Hast ein Bühnchen her und spielen mit unsagbar
naiven Gesten Hänsel und Gretel, und ich, der Lehrer, weiß nicht,
woher sie all die Geschicklichkeit nehmen und die großen Sprüche!
Ich erfahre es ja noch, denn sie können's unmöglich für sich behalten.
Drei Proben haben sie vorgenommen zu dem Feste und eine
Generalprobe! Morgen unfehlbar wird mir verraten, daß meine
seraphische Freundin die Stücke mit ihnen eingeübt habe, morgen
erfahre ich das bestimmt!
Da der Tag mit Märchenschimmer begonnen, wird er auch
so fortgeführt und beschlossen, und meine Behörde muß ein Nachsehen
üben am Nikolaustag! Ich bin sonst nicht auf Kommando zum
Märchenerzählen eingestimmt und zu anderen schönen Dingen,
aber dieser Tag gehört nun schon seit etlichen Jahren den schönsten
Dingen deS Herzens, und der Herr Verstand bleibt heute in seiner
Dunkelkammer. Die Kinder sitzen um mich herum, ich erzähle,
sie erzählen, wir singen, und am Nachmittag gehen wir in den Wald,
und die Frau Lehrer geht auch mit. „Liebe Frau Lehrer!" so
schreiben die Kinder: „Wir gehen heute mittag spazieren in den Wald,
gehst du mit uns? Und darf der kleine Friedemann auch mitgehen?
Gruß einstweilen vom Christkindchen!" Und ich, der Lehrer,
schreibe unten dran: „Und vom Nikolaus!"
So, jetzt ist's aber genug für heute! Dichter bin ich nicht,
Zar oder Volksbesieger auch nicht, will ich auch nicht sein und nicht
werden! Aber ein Schulmeister bin ich nach dem Herzen Gottes,
ein Kinderfreund und Kindernarr, in kleinem Kreis ein Träger
der Liebe, würdig vielleicht doch des großen Heiligen, dessen Namen
ich im Schilde führe!
Ha, fast hätt ich's vergessen: Auch aus der Stadt am Rhein
liegen hundert Glückwünsche da!
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