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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Zweites Heft
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Knoblauch, Adolf: Gereut, [1]: Erzählung
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Runge, Wilhelm: Lieder
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0035

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Zauber. Unfern des Heims der Mündigen, auf dem blauen
Hügel überm See mit seinen sprießenden Birken ruhte er und
sann bei den Klängen der Äolsharfe dem Geschick der Mün-
digen nach. Alsbald spannte Maimond ein zartes Spinngewebe
und knüpfte es unter den Mündigen. Er schlug den Brand in
der würdigen Männerbrust, liebkoste geschlechtlich, machte
Hände fiebern und Augen blinB^n nach reizenden Gegensätzen,
die aus feuchten Knospen heimlich erblühten. Maimond lockte
zur seltenen Zärtlichkeit und gab den Rausch aus gegorenem
Trank.
Unfruchtbar war der Sand, auf dem sich das Heim der
Mündigen erhob, Schoß allen Unkrautes und üppiger Wuche-
rung von Disteln, Brennesseln, Quecken, gelben Königskerzen.
Verleumdung, Neid und Eifersucht gediehen unter dem Alle
schützenden gemeinsamen Dach und Maimond spannte das
Spinngewebe aus Gelegenheit und Gunst der Stunde. Das stille,
heimliche Dreieck entstand, Flirt machte graue Tage bunt, gol-
dene Freiheit, nie gebotene der alten Ehe, wurde genossen.
Mancher Mündige sah den reizenden Bettschatz in Maimonds
Vcrstrickung mit dem durchdringenden Bewußtsein eigener Un-
fähigkeit und Ueberflüssigkeit.
Die rauhen Tage waren bald vorüber, als Maimond reich
und erfinderisch seine Wunder tat. Er hing die glänzende
Sommersonne in den düftewehenden Himmel. Die Frauen
sonnten sich stundenlang, atmeten im Moos den starken Wfürz-
geruch des Waldes und öffneten die Blusen. Maimond gab
ihrem Blut den Rausch seines gegorenen Trankes aus Goldlicht,
blauen Maiwolken, Würzwinden, Liederzwitschern, Zirpen und
Summen auf dem blauen Hügel überm See.
Der Rausch der Liebe und der Freiheit war gekommen,
die Mündigen lobten Maimonds süße Geschicke und folgten
seinen grünen Bannern. Alles Männliche, alles Weibliche ver-
liebte sich kreuzweis, der innere Kreis, die Reformer, das Ge-
sinde, die Familienhäupter, Herr Miesmuschel selbst, Vorsitzen-
der des Rates. Miesmuschel empfahl seiner Frau eine Er-
holungsreise und sie reiste infolge seiner Autorität. In der
Stube, die das sittliche, aber unfruchtbare Glück seiner Muster-
Ehe geborgen hatte, koste er heimlich mit Maimonds wonnigem
Zauber und zeugte die zugleich sinnliche und übersinnliche
Frucht.
Auf die berühmten, glücklichen Dollinge stürzte sich! ein
Schwarm liebeswütiger älterer Mädchen. Malerinnen und
Schauspielerinnen gesellten sich ihnen mit Küssen. Die Dol-
linge küßten Nacken und Busen, öffneten Blusen, Haare, Röcke,
und die Liebsten tanzten Salome und Nackttanz.
Liebesgruppen bildeten sich, die werktägig und sonntägig
in den Wirrungen starker und reizender Gegensätze duldeten
und genossen und lächelnd kreuzweise Wege ebneten. Das
Leben war kurz, die Ehe lang, wer wußte, wie schnell die Frist
der Mündigkeit ablief! Alle liebten intensiv, am liebsten jeden
Tag, und jeden Liebsten einen Tag lang. Einer wußte vom An-
deren alles, doch jeder von sich selbst am wenigsten. Dtie
verliebten Frauen waren am gierigsten nach Geheimnissen. Nie-
mand sah den jungen sauberen Naschkatzen von außen die
Sünden an, die sie aus Langeweile, Maimond und Sehnsucht
begingen.
Die Mündigen hatten nach Professor Freud eine heimliche
Lehre vom Nichtverdrängen sinnlicher Erregungen, sie schlossen
Vertrag mit der Liebe und waren freie Menschen. Der Mündige
sündigte nicht; wer mit der Schwester Eines und Gleiches im Gei-
ste war mit ihr im Leibe Eines und Gleiches. Sie waren Bruder und
Schwester in der künftigen Geistesfamilie. Der Mündige brach
mit der alten, absoluten Ehe und band mit der Demokratie an.
Jeder und jede wählten, was das Liebste war. Die Männer
kannten ihre böckische Gattung und stahlen sich aus der alten
Ehegewohnheit mit uraltem Grausen in Maimonds Freiheit-
Maimond lachte, Maimond reifte zur üppigen Sommerfreude,
räkelte sich im Sonnenbrand auf dem Mistbeet und verbreitete
die geile Wucherung seiner riesigen und hohlen Früchte.

V
Der Ruhm vom Paradies der Mündigen kam in aller Leute
Mund. Alle Ethiker, Soziologen und Snobs besuchten die junge
Gründung. Manch Armen im Geist trieb es, nach Avalun aus-
zuwandern, denn das Millennium war da. Wunderliche Männer
im blauen Hemd und gelben Mantel kamen mit Gemessenheit
lastbarer Dromedare, schreitender Türme; das Haar war mitten
über der weiblich niedrigen Stirn gescheitelt und fiel stark auf
die Schultern. Naturmönche, Brüder von der Stadtflucht und
dem Freilicht, Odins Söhne!
Ein junger Knecht wanderte aus seinem böhmischen Dorfe
fort und war wochenlang auf den Landstraßen nach der Stadt
im Norden unterwegs. Barhäuptig, barfüßig, dürr und stangen-
lang, kupfern von der Hundstagssonne, im Jungenskittel, dem
er ganz entwachsen war. Er wurde eingesperrt, kam ins Ar-
beitshaus, wanderte ein Stück voran. Die Kinder verspotteten
ihn! Er bettelte, fand Arbeit bei der Ernte. Ohne Paß, ohne
Geld, ohne Schutz, ohne Mantel, Schuh und Hut: Er kam vor-
wärts, nichts hielt ihn lange auf, denn er durfte nicht säumen.
Er arbeitete sich ans Licht, breitete die Flügel aus und brauchte
sie, weit weg zu fliegen. Allen, die nicht gerade seiner spotte-
ten, predigte der Junge: Kein Mensch soll im steinernen Hause
wohnen und gekochte Speise essen. Denn er verwarf Kleidung,
Küche und Kultur.
An einem Mittag kam der Böhme ins Heim der Mündigen,
als die Frauen den Tisch im Speisesaal deckten. Das Essen
dampfte und der Gast wurde einen Augenblick im Eßsaal allein
gelassen. Niemand wachte über dem Mahl der Mündigen. Der
bäuerische, ausgehungerte Landstreicher ergriff das nächste
Bratenstück und fraß es in den Händen, wahnsinnig vom lecke-
ren Geruch. Denn im Paradiese nahm jeder, was ihm am Lieb-
sten war.
Der Böhme bekam eine Kammer im Stall neben Myrddhin,
dem Dichter. Das Heim, seine Türen, Schränke und Stuben
wurden vor dem Kommunismus der Landstraße verschlossen.
Auch die Frauen fürchteten für ihre nicht-kommunistische Tu-
gend. Der Böhme bezog den Stall gar nicht, sondern wohnte
im Walde.
Eines morgens früh betrat eine mündige Dame den Wald
und vernahm von droben schreckliches Geheul, wilden Gesang,
Gelächter! In den Kiefernwipfeln turnte der dürre, nackte,
rothäutige Böhme, das Walduntier schlang sein Zottelhaar in
die Zweige. Die Dame flüchtete, denn sie entsetzte sich vor
dem Gorilla, der auf sie stürzen würde.
(Fortsetzung fotgt)

Lieder
Wilhelm Runge
Sehnen streichelt triftetaues Gras
Lächeln lehnt umroste Distelköpfchen
Häuser Schnecken trüb
Die neblen Weiten klammen
Düster dreht die Sinne stundenrund
Außen kniet und gräbt und mündet Innen
Quellen atmen hoch
still lindert leis
Femen trillern
Sträucher betten Jauchzen
Beeren drängen übersonnten Duft
Tief im Heu des Dörfchens bunter Käfer
Summen klettert in das blaue Glück
Lieder leuchten straßenhinundwieder
Sonne lehnt gelassen an die Tür
und der Himmel träumt mit allen Sternen friedlich um den hei
matlichen Herd
* *
*

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