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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Drittes Heft
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Knoblauch, Adolf: Gereut, [2]: Erzählung
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0050

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Die Mündigen erledigten das Defizit der Ordensfeste. Dann
stellte Miesmuschel die Klage gegen den Schädling des inneren
Kreises, den Knaben Gereut, zur Beratung, denn Gereut hatte
das Unglück, der Gemeinde zu mißfallen. Miesmuschel erhob
sich im Rate mit eigenen Anträgen, wenn es galt, Sittlichkeit
und Schicklichkeit zu predigen. Er war die Säule des Rates,
trat aufrecht, ehrbar unter die Gemeinde: „Seht meine Muster-
Ehe! Mag jeder ein Beispiel daran nehmen!" Sein frommer
Augenaufschlag, die runden hochroten Backen, das Oel seiner
Beredsamkeit, sein sittliches Auftreten machten Eindruck.
Miesmuschel schilderte den Knaben, den die Gemeinde aus
Mitleid mit seiner unbehilflichen Art in inneren Kreisen gedul-
det habe, dem sie Obdach und Essen gebe. Aber die Gemeinde
bedauere ihre Hilfe, denn Gereut verlottere, er treibe sich im
zerrissenen Anzug herum, er stehe nur vom Bett auf, um zu
essen, er habe Schulden, bezahle nicht und arbeite nicht für die
Gemeinde. Jetzt sei das Maß voll, denn Gereut sei auf Spazier-
gängen mit einer verheirateten Dame beobachtet worden.
Er schäme sich, den Namen der Dame anzugeben und bitte sie,
sich künftig vorzusehen. Zum Besten des frühreifen Schädlings
selbst diene es, wenn der Rat ihn vom inneren Kreise ausschlie-
ßen werde. Der Orden sei keine Fürsorgeanstalt.
Gereut wurde geholt, es wurde ihm die Anklage vorgehal-
ten und Obdach mit Essen gekündigt. Gereut verließ ohnje
Widerrede den Saal. Als es zu spät war, begann der eine Dol-
ling erregt auf und ab zu laufen und zu protestieren. Aber er
war willensschwach, litt an Herzerweiterung und war so gut-
mütig veranlagt, daß er unfähig war, eine Ungerechtigkeit offen
-zu bekämpfen.
Gereut packte seine Habe, mietete in der Stadt ein Maler-
Atelier und siedelte in die Stadt, In der Stadt litt er zehn Jahre
Elend, und nach zehn Jahren war er den schrecklichen Rädern
ehrsüchtiger Ichs ebenso preisgegeben wie unter den Mündigen.
Nietzscheaner Miesmuschel war in Uebereinstimmung mit
den Zeitgenossen: Was faul ist, solle man noch stoßen, daß es
falle! Denn Schwäche hieße Fäulnis!
Gereut siedelte in die Stadt und trat hinaus auf die Straße
der Stadt!
VII
Die Stadt
Gereut war in der Stadt.
Und die Stadt war in ihm, über ihm, nach ihm; das grenzen-
los entfaltete Gemeinwesen, in dem er einsam war. Gereut war
hervorgegangen aus Wald, Fluß, wipfelwogendem Himmel,
Sturm. Im Anstieg und Absinken der Jahreszeiten war seine
weise Knaben-Unschuld gewandelt, der freie Hirte, der nackte
* König, dem das bloße All gehörte, in dem er unversehrt blieb.
Die Stadt Versehrte ihn, gab ihm das Wissen, und er fand
sich einsam, gebrechlich. Er trat in die stählern kantige Halle
der Stadt. Damit die eherne Stadt leben könne, brauche sie das
Innigste, Weichste, und machte sein liebend blutreiches Herz
zu ihrem Schemel.
Die Stadt war Gereuts Schicksal. Ihre schauerliche Größe,
innereVerknüpftheit, verwirrende Macht, unermeßliche Ordnung
zerbrachen seinen Verstand. Gereuts Angesicht war schmal,
vertieft. Die weiße, starke, kantenlose Stirne kränzte dicht
braunes Haar. Er hatte große, leuchtende Augen von guten
Tieren. Sejne schmalen, weißen Hände hatten Schweigen ge-
lernt. Gereut zog in die Stadt mit strengen Gelübden, er hatte
die Hüften gegürtet.
Der unermüdliche Werktag der Stadt schleuderte gleich-
gültig das unzählige Gewimmel seiner gehorsamen Kinder hin-
ein in die Siebe, glühte es in Schmelztigeln. Gehetzte Pein,
Mürbheit der harten Arbeit, prahlende Ueberlegenheit, nervöses
Ungenüge, rücksichtslose Machtgier, Empörung der Furchtsa-
men, Aufgequälten! Undurchsichtiges, leidenschaftliches Spiel

der Geschehnisse eines ungeheuren Gemeinwesens Versehrte
Gereuts Gelübde, zerbrach den wissenlosen Frohsinn, lähmte
hilflos.
In ferner, unbekannter Tiefe der Stadt zündeten Blick, Wort,
Geberde den stummen Gedanken. Ein Herz, das Gereut nie
kennen noch begreifen würde, war geheimnisvoll in der Wucher-!
ung der menschlichen Millionen berufen, Tugenden des Her-
zens und Geistes fortzupflanzen, mit Stolz und Leid die Pflicht
im ehernen Ringe zu erfüllen.
Anbetungswürdiges Geheimnis in ewiger Unrast! Schöpf-
ung, Vereinigung, die alle erregenden Gifte tilgte! Eherne Kan-
tigkeit der bedeutenden Ordnung, in der alle gehorchten, er-
richtet über leidvoller Friedlosigkeit aller! Hinab zum ent-
legenen Gemach des Müden brannten explodierende bunte Son-
nen, silberne Sternregen. Angstgejagte Wirbel fiebriger Ge-
spenster fügten sich zum göttlichen Tanz, aus dem heldische
Paare in die Zukunft aufschritten und sich ernst auf sanfter
Höhe grüßten.
Die Stadt verwandelte den Gehorsamen; dem Beraubten
gab sie alles verwandelt wieder. Die Stadt hatte alles genom-
men: die mütterliche Erde, das Licht reiner Gestirne, die
Windsbraut, das Raunen, Donnern der Eichen, die vielfältigen
Vögel. Aber die Stadt hatte alles gegeben, was zur dauernden
Vereinigung taugte, und alle versammelt unter unendlichen Fit-
tichen schützender Gemeinbürgerschaft. Unaufhörlich meißelten
Untergänge in der erregten Tiefe den Willen des Gehorsamen
und trieben ihn an. Brach' aus gemeinsamen Schoß der flie-
hende Wirbel erregter Begierden vor, stand unerschütterlich die
Stadt im Gleichgewicht der Macht und Klarheit.
In wundersamer Tiefe schuf die Stadt am einsamsten,
menschlichsten Werk, dem Denkmal aller Denkmale, dem
Selbst! Sie schuf das Sein im Selbst zum Ringe und bildete aus
herzlicher Erde die kristallene Kugel, das Auge Gottes in ewiger
Gegenwart.
Gereuts Selbst wurde geboren, als er zu sehr ermattet war,
als Straßen unbarmherzige Wut donnerten, als Häuser ihre ge-
fesselte Trauer weinten, ihr Siechtum krümmten, Verfolgte in
letzter Pein, als sein Selbst aus dem aussätzigen Staub sich auf-
wärts schämte und sich zum ersten Mal abwandte vor Gottes
Herrlichkeit: Wohin geh ich vor deinem Geist, wohin flieh ich
vor deinem Angesicht?


Gereut ging in der Frühe zur Arbeit, zur gleichen Stunde,
zur gleichen Arbeit mit Tausenden! Langsam, müde unter den
Eiligen, abgesondert vom kameradschaftlichen Gespräch, arm
neben ihrem Ausleben. Die Zentrifuge der Stadt kreiste und
butterte die Hirne in den äußersten Anstrengungen, trieb Hände
und Herzen zur äußersten Erschöpfung.
Männer und Frauen kamen in die Straße, überholten ihn,
von der Arbeit erwählt, um mit freien Kräften zu kämpfen und
zu lieben! Sie kämpften, um zu lieben! Haß, Widerstreben stei-
gerten sie aufwärts, aus Haß war das große Gemeinwesen er-
baut, aus Haß butterte die Zentrifuge winzige Tropfen Liebe,
auf daß alle zum Sterben hätten.
Gereut war müde vor den Wällen der Häuser, vor den stau-
bigen Schwellen der unzähligen Pforten. Er war eines Morgens
verträumt aus dem Omnibus gesprungen und lächerlich hinge-
fallen. Er blieb lang hingestreckt mit dem Gesicht auf dem ver-
letzenden Pflaster, mit dem Kuß der Liebe ausgehaucht auf dem
Altäre der Stadt. Als Vorübergehende ihm helfen wollten,
stand er endlich auf mit besudelten Kleidern, blutender Hand,
zerschundenem Gesicht.
In jedes Angesicht schaute Gereut mit dem einzigen Herz-
schlag des Vorübereilens: Ruf, Donner, Gestöhn, Gebrüll, Ge-
läut, Harfe, Peitschenhieb, Lachen, Wimmern — Innehalten, Ge-
bücktheit, Stumpfheit, Trotten, Hast — die Mühseligen zogen
an Gereut vorbei, und im Blitze schied das Hochgeartete sich
vom Niederen.

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