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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 8.1917-1918

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Viertes Heft
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Knoblauch, Adolf: Gereut, [3]: Erzählung
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https://doi.org/10.11588/diglit.37114#0067

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DoHing — Herr Doll—linggg!" Zugleich griii Nonne an: „Herr
Dolling — Doll—linng — Doll—linnggg —. " Nun faßte Katherine
den Vater im Sturmangriff mit rauher Stimme: „Papa Doll—ling
— Doll—linnggg — Papa paaa —" Endlich sang Sibille den
Chor: „Doll—ling — Doll — Dolll —
Der stürmende Ring war geschlossen. Köpfe zurückge-
bogen, frei die Kehlen, Stühle wippend, schlugen die Mädels
Sturmtrommeln mit Löffeln an leere Teller, mit Hacken, Schuh-
sohle an Tischbein und Balken. Fünf Minuten Höllenlärm!
Die Kinder strengten sich an, um des hohen Zieles willen ernst
zu bleiben. Schweigstilie lachte Tränen. Sie flüchtete wütend
vor der Trampelei der unvernünftigen Kreatur auf ihren Nerven.
Der versunkenste Ichdenker würde nicht standhaft bleiben.
Dollings blutrote Träume von fürstlichen Bettgenüssen, die
Seiner nach den geistigen Vereins-Anstrengungen um Mitter-
nacht unentgeltlich harrten, erblaßten, zitterten vor dem Auf-
ruhr: Nonne vernahm den schwachen Hauch der Ergebung fm
dichten Wirbel und gebot Stille. Der Vater nahm das Augen-
glas aus dem mageren, verwittert roten Gesicht, und wischte
umständlich die kleinen, blinzelnden Augen: „Ja — ja — Herz-
chen, Kinderchen — wollt ihr was?"
Der erregte Chor schrie im Takt: „Eine Mark, wir wollen
^eine Mark!" Atemlos aus Schalkheit schrie Schweigstille er-
bärmlich: „Du gehst zum Fest! Wir müssen allein bleiben.
Nonne kann nicht mal Kuchen kaufen!" Sie drückte mühsam
eine Träne zwischen die Finger. Der Chor krähte weinerlich:
„Nicht mal Kuchen kaufen!"
In diesem Augenblick tauchte der Vater wieder in seinen
tiefen Brunnen, er hatte sein Fleisch zerlegt und die Welt rings
um seinen Teller drohte verloren zu gehen. Aber die Welt
hatte die Gefahr schnell erkannt. Rufen hüben Sirenen —
schrill an: „Vater Doll—11—ling—linnggg —!" Endlich hörte
Nonne, die zunächst saß, seine Stimme vernünftig anordnen:
„Ich gebe zwei Mark fünfzig, Jedem fünfzig Pfennige, auch Sine
und Nonne!" Er wandte sich an die Töchter: „Kinderchen!
Herzchen! seid artig, ihr kriegt euer Geschenk, ich lasse doch
meine Kinderchen nicht weinen! Und nun laßt euer geplagtes
Väterchen sein Mittag in Ruhe essen!" .„Sieg! Sieg!" rief
Schweigstilie. Der Siegespreis war bezahlt, die Töchter konn-
ten zum Feste rüsten.
* *
Nonne machte mit den Kindern schnell Schularbeiten. Nach
Vater Dollings Fortgang versammelten sich zehn kleine Mädels
in der Wohnung, alle im gleichen Alter und gleich bereit, im
aufrührerischen Schwung der Dollinge zum Unfug und Schrek-
ken der Hausbesitzer.
Von ihren Loggien und Altanen blickten Hausbesitzer und
Naturfreunde behaglich auf ein Paradies von geschorenen und
wohlgezäuntem Rasen hernieder, auf Trauerweiden, Rosen-
stöcke, und prächtig kiesgelbe zirkelrunde Wege. Beständig
wurde das Paradies besprengt, und sein Frieden bewacht.
Die Dollinge flogen das Geländer der Haupttreppe herab,
zehn kleine Mädels von der Schulstrenge frei, unbändige Spring-
lust in den Beinen. Katherine lachte herzlich mit rauher Stim-
me, die träge Sibille sauste mit senkrecht hängenden Locken,
quecksilbrig zankte Schweigstilie und bockte hinein in den
Schwarm, daß er auseinanderstob. An Sines Fenster zur ebenen
Erde vorbei ging die Fahrt der Hexen, der Kies knirschte unterm
Getrampel der heillosen Unvernunft. Sine lag zu Bett und sie
umklammerte ihren Schädel, dessen Knochen nicht standhielten,
mit den Händen und starrte umnachteten Auges auf ihren augen-
blicklichen Roman: „Der Kommilitone, Geschichte eines jüdi-
schen Studenten."
Die Hausbesitzer standen rings hinter den jeweiligen Zäu-
nen ihrer Grundstücke, und lauerten nervös auf eine Gelegen-
heit, um den wilden Lärm zu dämmen. Die Sonne stand niedrig
rot über dem Bahngleis, kleine rote Flammen züngelten vom
himmelsfernen Brand durch idas Laub des Verandengitters.)
Nonne deckte dmi Kaffeetisch hinter der blätterumrankten

Laubenwand der Altane, dort durften die Mädels unbekümmert
sein.
Als Nonne den Kaffee Sinen ans „Krankenbett gebracht
hatte, rief Nonne die Kinder. Katherine schenkte ein, Nonne
teilte den Kuchen ein. Man war ganz unter sich, und Schweig-
stilie führte alle an, indem sie schonungslos Spitzen gegen Jede
stach. Sehr kritisches, empörend ungezogenes Gespräch, das
bildreich und kräftig war, beschäftigte die Kaffeerunde, während
der Vater seine Schäferin zum italienischen Presseabend ab-
holte.
Kein Fest der Mädchen ohne Gesang. Nonne führte den
Takt, und alle sangen richtig, ruhig, fest. Sie sangen den licht-
blauen Abend und geleiteten ihn zur langen Nacht, unverdros-
sen, unbekümmert um Flausbesitzer, Naturfreunde. Sie sangen
wilde Blumen, Vögel, Winde, die bekannten und unbekannten
Träume! Nachbaren, kleine Mädchen, verliebte Knaben lausch-
ten dem Gesänge auf himmlischen Flügeln.

Gereut ging die Stiege in der Dollingschen Wohnung zum
Schlafzimmer der Kinder hinab. Sie hatten verlangt, und Nonns.
hatte gebeten, daß Gereut gute Nacht sage. Im dunklen Flur
öffnete Nonne die Tür vor Gereut, und er schaute in drei helle
erwartende Mädchengesichter. Er lachte, sie freuten sich in
den weißen Betten und antworteten ihm. Nonne drehte das
Licht aus, der helle Leuchtfaden erlosch, und die Kinder schau-
ten auf das freie, weiße Rechteck der Tür, das im Schein des
elektrischen Mondes hoch von der Straße glänzte. Sie warte-
ten in der langen Stunde vor dem Einschlafen darauf, daß die
Tür sich auftäte. Wer Alles mochte an die Tür klopfen und
durch die Stube gehen: sieben Jünglinge in Gestalt von sieben
Raben mochten zu den Betten herbeifliegen und nach der
Schwester fragen!
Nonne lehnte die Tür vorsichtig an, und beim leisen Fort-
gehen hörte er undeutlich: „Flerr Gereut .... bereut . . . ."
Nonne war müde, der Abend gar zu lang, denn Vater Dol-
ling würde erst mit dem Frühzug heimkommen, und bis dahin
sollte sie Kinderwache halten. Gereut blieb bei ihr, sie legte
sich auf den Divan, er deckte sie zu, löschte das Licht, und kau-
erte im Finstren lauschend am Fenster. Er starrte auf die Straße
mit den beiden Reihen dichter Kastanienschatten, durch die
Funken von Gaslaternen glitzerten. Gereut fieberte. Er
wollte mit Nonne heimgehen und nach dem Werktage ruhen
dürfen.
Als Nonne eingeschlafen war, trat er leise in Dollings Ar-
beitszimmer, drehte Licht an und wanderte auf dem roten Tep-
pich: er grübelte über den Weg, den er gehen könnte, um end-
lich Nonne im eigenen Heim behalten zu dürfen und sie nieman-
dem mehr herauszugeben.
Er blieb vor den Gestellen stehen, in denen Reihen nie ge-
sichteter, selten benutzter, lieblos weggestopfter Bücher Ver-
staubten: Theaterkritik, Dramaturgie, Goethe und Schiller
frische Romane und Gedichte, Buch der Erfindungen, Hausbi-
bliothek des Wissens, Weltall und Menschheit
Gereut hatte der Verdummung der Presse widerstanden
und sich der vielschreibenden Geschäftigkeit und Betrieb-
samkeit entgegengestemmt. Er war mit Elend, dem gottver-
hängten Dichterlos bestraft worden. Er wagte es, im Elend
sein Schicksal festlich zu empfangen.
Er starrte auf die zur Besprechung cingegangenen frischen
Bücher, die Nonne sorglich auf dem roten Teppich aufgestapelt
hatte, und versetzte den wuchernden Haufen Tritte, daß sie um-
stürzten. Erschrocken hielt er inne, denn er glaubte Nonne
vom Lärm erwacht. Aber die Nacht rauschte still, Schritte
Vorübergehender, laute Unterhaltung brachen die Einsamkeit
und ihn fror. Wangen und Stirn brannten, seine Füße waren
eiskalt.
Er dachte dies: Theaterhallen, Festsäle in der Fülle ge-
schmückter Mengen, zierdenreicher Frauen, gepflegter gutge-
kleideter - Männer. Gespräch, Elektrizität der Geberden,
Lachen, Flug von Blicken! Lichtkronen schimmerten riesig

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