Unsere heutige Schauspielkunst (und das
ist, um es zu wiederholen, in diesem Zusam-
menhang die Sprechkunst, sei es die der
Schauspieler, sei es die der Rezitatoren)
befindet sich vollkommen in den Klauen der
Dichtung, der Sätze, und bei den schlech-
testen Vertretern dieser Kunst sogar in Ab-
hängigkeit der Worte. Ihre Beurteiler, seien
sie Publikum, seien sie Kritiker, stehen so
vollkommen unter dem Bann dieses Vor-
urteils, daß sie die eigentliche Leistung des
Schauspielers (Sprechers) weder beurteilen,
noch überhaupt nur hören können. Genau
so wie wir alle verlernt haben, den reinen
Klang eines Wortes aufzunehmen, weil sich
die begriffliche Vorstellung (Vor-Stellung)
vordrängt, genau so wie niemand die Farb-
formen eines sogenannten darstellenden
(impressionistischen) Bildes auch nur sieht,
geschweige denn beurteilend abwägen kann,
genau so wenig hört der Hörer, sei er Publi-
kum, sei er Kritiker, in unseren Theatern
oder Vortragssälen eine klangliche Leistung,
weil sich die Dichtung, der Sinn, das Wort
vordrängt. (Da ich von anderem, wie von
der sogenannten Handlung und störendem
Beiwerk der theatralischen Umwelt hier
gar nicht reden will.) Die Schauspieler
selbst, und ich meine damit diejenigen, die
heute als die besten beurteilt werden, wol-
len selbst gar nichts anderes als ihren Text
sprechen. Grade mir braucht man nicht
zu sagen, daß sie doch alle melodisieren.
Denn ich erwidere: wie mans nimmt! Alle
Menschen melodisieren, da sie doch gar
nicht anders können. Und was man einen
Schauspieler oder Rezitator nennt, ist einer,
der die Melodien seiner Sprache geschickter
als die Andern imitieren kann und dabei
immer noch weit, weit hinter dem letzten
seiner Originale zurückbleibt. Denn wenn
Sie, meine verehrten Damen und Herren,
einmal die Güte haben wollen, von den
schauspielerischen „Melodien“ die Worte
sich wegzudenken oder wegzuhören (wenn
Sie das fertigbringen!), dann werden Sie er-
szhrccken vor dem, was als die eigentliche
(eigene) Leistung des Schauspielers und Re-
zitators übrig bleibt. Es ist im Falle unserer
anerkannten Schauspieler so gut wie gar
nichts! „Von Melodie auch keine Spur!“
Und so ist der Unterschied zwischen dem,
was man einen guten und einen schlechten
Schauspieler nennt, nur ein Unterschied der
Grade, nicht des Wesens. Was so viele
Hörer reizt und so viele gar begeistert, ist
etwas ganz anderes als das Künstlerische.
Es muß etwas anderes sein. Denn Kunst
ist immer nur rhythmische Gestal-
tung. Aber die Melodie des Schauspielers
beherrscht nicht der Rhythmus, sondern der
Stoff. Zur Entschuldigung der Schauspieler
kann man nur sagen, daß die gesamte vor-
expressionistische Dichtung selbst unrhyth-
misch ist, und darum die Rhythmisierung
durch die Sprechmelodie erschwert. Aber
freilich nur erschwert, unmöglich ist sie
nicht. Denn die Auswahl unter den Sprech-
tönen ist unendlich.
Welche Bedeutung hat also die Erkenntnis
einer absoluten Sprechmelodie für die ge-
sprochene Dichtung? Daß nur dann ge-
sprochene Worte Kunst sind, wenn ihre
Melodie auch ohne Anhörung der Worte,
für sich allein Kunst ist. Alles andere ist
Kunst-Ersatz, für die Schwächlinge, für die
Aestheten.
Und nun schlagt mich tot!
Rudolf Blümner
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ist, um es zu wiederholen, in diesem Zusam-
menhang die Sprechkunst, sei es die der
Schauspieler, sei es die der Rezitatoren)
befindet sich vollkommen in den Klauen der
Dichtung, der Sätze, und bei den schlech-
testen Vertretern dieser Kunst sogar in Ab-
hängigkeit der Worte. Ihre Beurteiler, seien
sie Publikum, seien sie Kritiker, stehen so
vollkommen unter dem Bann dieses Vor-
urteils, daß sie die eigentliche Leistung des
Schauspielers (Sprechers) weder beurteilen,
noch überhaupt nur hören können. Genau
so wie wir alle verlernt haben, den reinen
Klang eines Wortes aufzunehmen, weil sich
die begriffliche Vorstellung (Vor-Stellung)
vordrängt, genau so wie niemand die Farb-
formen eines sogenannten darstellenden
(impressionistischen) Bildes auch nur sieht,
geschweige denn beurteilend abwägen kann,
genau so wenig hört der Hörer, sei er Publi-
kum, sei er Kritiker, in unseren Theatern
oder Vortragssälen eine klangliche Leistung,
weil sich die Dichtung, der Sinn, das Wort
vordrängt. (Da ich von anderem, wie von
der sogenannten Handlung und störendem
Beiwerk der theatralischen Umwelt hier
gar nicht reden will.) Die Schauspieler
selbst, und ich meine damit diejenigen, die
heute als die besten beurteilt werden, wol-
len selbst gar nichts anderes als ihren Text
sprechen. Grade mir braucht man nicht
zu sagen, daß sie doch alle melodisieren.
Denn ich erwidere: wie mans nimmt! Alle
Menschen melodisieren, da sie doch gar
nicht anders können. Und was man einen
Schauspieler oder Rezitator nennt, ist einer,
der die Melodien seiner Sprache geschickter
als die Andern imitieren kann und dabei
immer noch weit, weit hinter dem letzten
seiner Originale zurückbleibt. Denn wenn
Sie, meine verehrten Damen und Herren,
einmal die Güte haben wollen, von den
schauspielerischen „Melodien“ die Worte
sich wegzudenken oder wegzuhören (wenn
Sie das fertigbringen!), dann werden Sie er-
szhrccken vor dem, was als die eigentliche
(eigene) Leistung des Schauspielers und Re-
zitators übrig bleibt. Es ist im Falle unserer
anerkannten Schauspieler so gut wie gar
nichts! „Von Melodie auch keine Spur!“
Und so ist der Unterschied zwischen dem,
was man einen guten und einen schlechten
Schauspieler nennt, nur ein Unterschied der
Grade, nicht des Wesens. Was so viele
Hörer reizt und so viele gar begeistert, ist
etwas ganz anderes als das Künstlerische.
Es muß etwas anderes sein. Denn Kunst
ist immer nur rhythmische Gestal-
tung. Aber die Melodie des Schauspielers
beherrscht nicht der Rhythmus, sondern der
Stoff. Zur Entschuldigung der Schauspieler
kann man nur sagen, daß die gesamte vor-
expressionistische Dichtung selbst unrhyth-
misch ist, und darum die Rhythmisierung
durch die Sprechmelodie erschwert. Aber
freilich nur erschwert, unmöglich ist sie
nicht. Denn die Auswahl unter den Sprech-
tönen ist unendlich.
Welche Bedeutung hat also die Erkenntnis
einer absoluten Sprechmelodie für die ge-
sprochene Dichtung? Daß nur dann ge-
sprochene Worte Kunst sind, wenn ihre
Melodie auch ohne Anhörung der Worte,
für sich allein Kunst ist. Alles andere ist
Kunst-Ersatz, für die Schwächlinge, für die
Aestheten.
Und nun schlagt mich tot!
Rudolf Blümner
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