Thausing, Moritz: Wiener Kunstbriefe (Leipzig: Seemann, 1884)

I.
Die Stellung der Kunstgeschichte als
Wissenschaft.
Aus einer Antrittsvorlesung an der Wiener Universität im October 1873.
1 ie Anerkennung der neueren Kunstgeschichte
als wissenschaftliche Disciplin, ihre Berech-
' tigung, neben den anderen historischen Fächern
Platz zu nehmen, ist noch jungen Datums und die
Meinungen über ihre Bedeutung sind noch sehr ge-
theilt. Es bestehen in dieser Hinsicht zum Theile gar
wunderliche Vorstellungen, auch in Kreisen, denen man
einen gewählteren Standpunkt [in dieser Frage wohl
zumuthen könnte. Es dürfte daher zunächst nicht un-
zweckmässig erscheinen, über Umfang, Methode und
Probleme der kunstgeschichtlichen Forschung einige
Rechenschaft zu geben. Und zwar gelangen wir
meines Erachtens zu diesem Ziele am besten auf einem
indirecten Wege, indem wir nämlich die Grenzen in’s
Auge fassen, welche die Kunstgeschichte von den ver-
wandten Wissenschaften, als da sind die classische
Archäologie, die Aesthetik und die Weltgeschichte,
scheiden oder sie mit denselben verbinden; und endlich
jene wichtige Grenzscheide, welche die Kunstgeschichte
von der praktischen Kunstübung trennt, und welche
T hau sing, Wiener Kunstbriefe. I