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Thausing, Moritz
Wiener Kunstbriefe — Leipzig: Seemann, 1884

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https://doi.org/10.11588/diglit.47062#0305
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XX.
Rafaels Liebe.
Eine Betrachtung am 363. Jahrestage seines Todes, zugleich dem
400. seiner Geburt.
m 6. April 1520 — es war ein Charfreitag —
erbebte der Vatican in seinen Grundfesten, so
dass Papst Leo X. aus seinen wankenden Ge-
mächern flüchtete in die Wohnung des Cardinals Cibo.
Zur selben Stunde, zwischen neun und zehn Uhr
Abends hauchte in seinem benachbarten Palaste Rafael
seine grosse Seele aus. Das Zusammentreffen der
beiden Ereignisse machte einen solchen Eindruck auf
die Zeitgenossen, dass sie nicht umhin konnten, die-
selben in einen mystischen Zusammenhang zu bringen,
als ob dem Vatican geschaudert hätte vor dem Ver-
luste dessen, der ihm den höchsten Schmuck verliehen
hatte und immer noch zu verleihen im Begriffe war.
In diesem Sinne schreibt bereits am 11. April der
edle Venezianer Marc Antonio Michiel an einen Freund
in Venedig. Der Papst hatte den grössten Antheil
an der Erkrankung seines Lieblings genommen und
sich unaufhörlich nach dessen Befinden erkundigen
lassen. Er weinte bitterlich beim Empfange der Nach-
richt von Rafaels Tode, und mit Recht, denn Aeonen
können vergehen, ehe einer seinesgleichen wiederkehrt.
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