Thausing, Moritz: Wiener Kunstbriefe (Leipzig: Seemann, 1884)

XXV.

Giorgiones Venus.
Aus der Dresdener Galerie.

enn wir dem Kataloge des letzten Dresdener
Malerdirectors glauben dürften, so besässe die
dortige Galerie fünf Bilder von Giorgione, also
genau so viele, wie der neue Katalog der Wiener
Belvedere-Galerie aufführt — seltsame Familien-Aehn-
lichkeit! Wir sind aber im Vortheile. Während sich
nämlich unter den im Wiener Kataloge aufgeführten
Giorgione einer befindet, der wirklich von der Hand
Giorgiones oder doch zur Hälfte von dessen Hand
gemalt ist, sind die im Dresdener Kataloge ange-
führten sämmtlich unecht, theils Copien, theils fälschlich
zugeschriebene mehr oder minder rohe Machwerke.
Dafür aber führt der dortige Katalog als Copie nach
Giorgione und angeblich von der Hand Sassoferratos
ein Venusbild auf, das sich trotz dieser unscheinbaren,
fast abschreckenden Benennung doch seit jeher der
Gunst des Publicums erfreut hat. Wenn man aber
jetzt, unterrichtet durch Iwan Lermoliew, vor dieses
Gemälde tritt, dann begreift man gar nicht, dass man
in demselben nicht schon längst, trotz der grossen
Beschädigungen, die Hand und den adeligen Sinn
Giorgiones erkannt hat.