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Zeitschrift für christliche Kunst — 9.1896

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Semper, Hans: Ueber rheinische Elfenbein- und Beinarbeiten des XI. und XII. Jahrh., [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3831#0159

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263

1896.

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTUCHE KUNST — Nr. !).

26 1

theils mit Kronen bedeckt, theils unbedeckt,
mit senkrecht in die Stirne fallenden, parallelen,
bisweilen an den unteren Enden lockenartig
gekrümmten Haarsträhnen. Die schmalschulte-
rigen Gestalten sind eng von Gewändern um-
schlossen, die aus einer bis an die Füfse reichen-
den Tunika und einem togaartigen Ueberwurf
bestehen. Der ziemlich reiche Faltenwurf ist
wenig plastisch, durch Einkerbung und flach
vorspringende Faltenrücken gebildet. Die roh
geschnitzten und grofsen Hände halten theils
den Mantel, theils sind sie mit drei Fingern
oder auch mit der ganzen, nach Aufsen ge-
kehrten Handfläche, zum Segen oder zur An-
sprache erhoben, theils halten sie Bücher,
Schriftrollen oder den Mantelzipfel. Madonna,
welche die Mitte der Vorderseite des Kästchens
einnimmt, ist in einen Mantel gehüllt, der über
den Kopf gezogen und über der Brust zu-
sammengehalten ist, trägt eine niedrige Krone
und hält mit beiden Händen das starr schema-
tisch gebildete, segnende Christkind vor sich,
welches ebenfalls gekrönt ist. Joseph, rechts
neben ihr, stützt sich auf einen Stab, die
hl. Drei Könige links von ihr halten Büchsen.2)
Die Füfse der Figuren sind nackt oder mit
spitzen Schuhen bekleidet und nach abwärts
gestreckt.

An der Architektur dieses Kästchens, das
am Sockel mit Pfeifen verziert ist, fallen als
besonders charakteristisch die Pfeiler mit ihren
steilen Basen auf kannellirten Sockeln, sowie
die steilen, ebenfalls aus kannellirten schilf-
artigen Blättern gebildeten Kapitale in die
Augen. Diese Merkmale sind, gerade auch wegen
ihrer starr schematischen und gleichförmigen Bil-
dung, so bezeichnend, dafs es nicht schwer fällt,
von einer ganzen Reihe anderer, in verschie-
denen Sammlungen befindlicher Objekte mit
Sicherheit die Identität der Mache und Prove-
nienz mit dem oben erwähnten Kästchen festzu-
stellen. E. Molinier führt selbst eineReihe solcher
Beispiele an, so den aus der Abtei von S. Ived
de Braisne stammenden, von Hugo, Abt von
Estival, im XIII. Jahrh. gestifteten Reliquien-
schrein im Musee Cluny (Katalog n. 1052),
welcher mit der vorerwähnten Truhe im Louvre
fast völlig übereinstimmt, aber auch noch den
ebenfalls mit Heiligenfiguren geschmückten

2) Im Uebrigen verweisen wir betreffs der Be-
schreibung der einzelnen dargestellten Figuren auf
Molinier op. cit.

Deckel besitzt. Ferner gehört hierher (nach
Molinier; n. 35 im Louvre, ebenfalls ein oblon-
ger Kasten mit ähnlichem Beinschmuck. Ebenso
rechnet Molinier mit Recht zu dieser Gruppe
einen Reliquienbehälter im Berliner Museum
(n. 466), der aber diesmal einen achteckigen
(nicht kreisförmigen, wie Molinier angibt) Bau
mit freistehenden Ecksäulchen und Zeltdach
darstellt.

Andere Werke dieser Art sind nach Moli-
nier: Ein viereckiger Kasten im Muse'e Cluny
(Katalog n. 1051); ein ähnlicher, der 1877 in
Lyon ausgestellt war, publizirt von J. B. Giraud;8)
eine Tafel mit der Kreuzigung, aus dem
Schatz von S. Riquier, veröffentlicht von G. Du-
rand.4;

Diesen Werken lassen sich noch beifügen: Zwei
turrisförmigeReliquienbehälter im Museum zu
Darmstadt, von denen der kleinere mit dem-
jenigen im Berliner Museum ziemlich voll-
ständig übereinzustimmen scheint.5) Schaefer's
Worte lauten: „Das kleinere Turrisreliquiar
scheint etwas jünger zu sein; wenigstens deuten
die völlig freistehenden Säulen der Archi-
volten, die Behandlung des Kapitals und die
Entwickelung der Hochrelieffiguren zu fast
völligem Rundbild auf einen späteren Ursprung
hin." Das pafst vollkommen auch auf das Ber-
liner Reliquiar. Das zweite gröfsere Reliquiar,
welches Schaefer ausführlicher beschreibt, wurde
auch vonNöhringund Fritschin Lübeck in Licht-
druck veröffentlicht.6) (Fig. 1.) Diese Tafel zeigt
schlagend die Identität der Mache und Her-
kunft mit den von Molinier beschriebenen
Kästen im Louvre. Nur dafs dieses Reliquiar
in Darmstadt abermals die Gestalt eines Cen-
tralbaues nachahmt, dessen unteres Geschofs
ein sechzehnseitiges, dem Cylinder sich nähern-
des Polygon mit aufrechten Figuren zwischen

■") »Recueil descriptif et raisonne des principaux
objets d'art ayant figure a l'exposition de Lyon en 1877«
(pl. III et IV, n. LI.

4) »Societe' des antiquaires de Picardie. Album
archeologique« (10 fasc).

,r') Nach G. Schaefer's Beschreibung in seiner Fest-
schrift »Die Denkmäler der Elfenbeinplastik des grofs-
herzoglichen Museums zu Darmstadt« (Darmstadt 1872),
p. CO.

'') »Kunstschälze aus dem grofsherzoglichen Mu-
seum zu Darmstadt« Taf. VII. Vom Decke] zwei
Lichtdrucke bei F. Noack: »Die Geburt Christi in
der bildenden Kunst« (Darmstadt 1894, Tafel II, I, 8),
der die dort angebrachten ursprünglichen Darstellungen
und spateren Zusätze genau analysirl (p. 5).
 
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