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Zeitschrift für christliche Kunst — 33.1920

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Beitz, Egid: Grünewalds Golgatha
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https://doi.org/10.11588/diglit.4307#0138

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Nr. 9/10

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST.

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mehr seiner Schöpfungen in unsere Zeit hineingerettet worden. Grünewald ist
einer der letzten großen Gotiker, den der Kunsthistoriker umschleichen mag, um
ihn auf Südlands- und Renaissancepfaden zu ertappen, er wird dabei auch hier
und dort eine renaissanceliche Verbrämung finden, aber um das gotische Wesen
des Gewaltigen verschlägt es nichts. Das Rinascimento, die Wiedergeburt der
heitern Antike, war der Feind Grünewaldscher Kunst. Darum mußten seine
Tafeln in Mißachtung fallen und mußten darin verbleiben, solange das antike
Schönheitsideal vorherrschend blieb. Erst als dieses in unserer Zeit die Vorherr-
schaft verlor und ein großes Leid durch die Lande ging, wurde ein Schmerz wie
derjenige Grünewalds wieder allgemein verständlich.

Grünewald war eine geschichtliche Gewalt, die auf der Weltenbühne erschien,
alsbald im Szenenwechsel verschwand und dann nach vier Jahrhunderten wieder
aufgerufen wurde. In-
zwischen hatte sich die
Bedeutung seiner histo-
rischen Mission ver-
schoben. Heute ist er
uns das Symbol eines
verlorenen, einheit-
lichen deutschen Kul-
tur- und Glaubens-
willens, den wir mit
allen Fasern unseres
Herzens wieder herbei-
sehnen. Vor vier Jahr-
hunderten war Grüne-
wald einer der letzten
ganz großen mittel-
alterlichen Propheten,
der mit dem Posaunen-
klang seiner Farben und
Gedanken seherisch
die Zeit zur Besinnung rief. Sein Ruf verhallte. Aber was seine Stimme rief,
darüber ist kein Zweifel, denn er schrieb es mit großen Lettern auf das
Isenheimer Kreuzigungsbild: jk Illum oportet crescere — me autem minui;
Jener muß wachsen, ich aber kleiner werden! Johannes der Täufer, der diese
Worte spricht, weist mit gerecktem Finger auf den ins Übermenschliche ge-
wachsenen Heiland. Das mystische Lamm zu seinen Füßen blickt ebenfalls zum
Erlöser empor und verstärkt so noch die Geste des Täufers. Durch diese beiden
Figuren hebt Grünewald das Gemälde über den rein historischen Golgathavorgang
hinaus und macht es zum Symbol seiner Zeit. Der Täufer tritt noch einmal auf
wie einst zu Christi Tagen und weist die Menschheit auf das, was allein notwendig
ist: Christus muß wachsen! Der rechte Arm des Täufers ist ein Wegweiser nach
Golgatha voll der ungeheuren Ausdruckskraft, wie sie nur die Gotik besessen,
ganz im Gegensatz zur Renaissance, die zum mindesten formal ihre Quelle nicht
auf Golgatha, sondern auf der Akropohs suchte. — Mit dem Gestus des Täufers
und dem aufblickenden Lamme hebt in dem Bilde eine starke Bewegung von

Matthias Grünewald, Isenheimer Altar.
 
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