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Zwierz, Maria [Hrsg.]
Breslauer Schulen: Geschichte und Architektur — Wrocław, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.38676#0096

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Roland B. Müller

Schulische Bildung für die jüdischen Kinder
und Jugendlichen zwischen 1918 und 1943

*
Der Beitrag ist ein Ergebnis intensiver Recherchen in den Beständen
der Akten des Magistrats von Breslau aus der Zeit 1918 bis 1945.
Sie konnten dank der Förderung durch das Sächsische Staats-
ministerium des Innern sowie mit Hilfe und Unterstützung des
Architekturmuseums, des Historischen Museums sowie des polni-
schen Staatsarchivs in Breslau durchgeführt werden. Zugleich haben
viele Hinweise von Zeitzeugen geholfen, um über die Akten hin-
aus ein besseres Bild vom Breslauer Schulwesen in dieser Zeit zu
erlangen. Allen Helfern und Förderern, darunter ganz besonders
auch dem Verein HATiKVA' in Dresden, in dessen Trägerschaft die
Untersuchungen erfolgten, sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
Mit der Schilderung der schulischen Verhältnisse für die jüdi-
schen Kinder und Jugendlichen in Breslau im Zeitraum zwischen
der Novemberrevolution in Deutschland und der Deportation jüdi-
scher Schulkinder am 5. März 1943 nach Auschwitz und ihrer
Ermordung im KZ soll dazu beigetragen werden, dass die Erinnerung
an sie, ihre Lehrer und die um ein demokratisches Schulwesen
bemühten Mitarbeiter in der Magistratsschulverwaltung lebendig
erhalten bleibt. Sie alle haben einen Namen, ein Gesicht und ihr
Schicksal. Die, die namentlich genannt werden, stehen stellvertre-
tend für die ungenannten, unter denen viele sind, deren Schicksal
noch bis heute ungeklärt ist2.
Dank internationaler Erhebungen und Vergleiche über den Bil-
dungsstand der heutigen Schuljugend steht das deutsche Bil-
dungswesen gegenwärtig sehr im Lichte der Öffentlichkeit. Auch
unter diesem Aspekt ist es interessant, einen konkreten Blick auf
das Schulwesen der Zeit der Weimarer Republik und der Herrschaft
der Nationalsozialisten zu richten. Besonders daraus, wie die schu-
lische Bildung der jüdischen Kinder und Jugendlichen zwischen
1919 und 1943 gestaltet wurde, lassen sich gute Einblicke in
Strukturen und Geschehnisse jener Zeit gewinnen, die für unser
Geschichtsbild sehr wichtig sind. Dabei wird u. a. deutlich, dass
auch auf sogenannten unteren Leitungsebenen in den Strukturen
der Gesellschaft Menschen agierten, die es verdienen bzw. erfor-
dern, dass ihr Name genannt wird, wenn gleich ihre weiteren Spuren
sich oftmals inzwischen verloren haben.
Bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war die
schulische Bildung der jüdischen Kinder und Jugendlichen von
Breslau ein integrierter Bestandteil des Schulwesens der Stadt. Die
überwiegende Mehrzahl der Kinder besuchte die öffentlichen evan-
gelischen, katholischen oder die so genannten Sammel-, d.h. kon-
fessionslosen Schulen. Erst durch die unmenschliche Politik der
nationalsozialistischen Machthaber entstand ein besonderes und
eigenständiges jüdisches Schulwerk. Die Mühen um die Vermittlung
der Bildung auf hohem Niveau und die Würde der jüdischen Schüler

und Lehrer, mit der sie den Bedingungen des feindlichen Staates
begegneten, erfordern höchsten Respekt.
Gerade das Schicksal der Lehrer und Schüler ist zugleich für
die Gegenwart Mahnung und macht deutlich, wohin Antisemitismus,
Fremdenfeindlichkeit und Obrigkeitshörigkeit sowie Leichtgläubig-
keit gegenüber falscher Propaganda führen können.
I
Bei allen bedeutsamen Veränderungen, die die deutsche Novem-
berrevolution von 1918 und die Ausrufung der Weimarer Republik
auch für Breslau und das Schulwesen der Stadt gebracht hatten,
für die jüdischen Schüler und ihren Schulunterricht hatte sich vor-
erst nichts geändert. Der 1919 bestehende Zustand war das Ergebnis
der vorangegangenen Epoche. Dazu gehörten die weitgehende
Emanzipation der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft der Stadt
ebenso wie die Ergebnisse der Auseinandersetzungen innerhalb der
Synagogengemeinde. In der Schulfrage, wie auch auf anderen
Gebieten, hatte sich in der Einheitsgemeinde die große liberale
Fraktion gegenüber der kleineren konservativen durchgesetzt.
Danach besuchten die jüdischen Kinder und Jugendlichen die glei-
chen Schulen wie ihre evangelischen und katholischen Alters-
genossen auch, das heißt die städtischen Volks- und Mittelschulen,
die städtischen und staatlichen höheren Schulen sowie die priva-
ten Schulen. Bis 1920 bestand außerdem noch ein Relikt, das auch
die vorangegangene Epoche überdauert hatte, die 1802 gegründe-
te Industrieschule für israelitische Mädchen, die im letzten Jahrgang
noch 643 Schülerinnen hatte.
Breslau zählte mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 3,8%
(1919) zu den großen Zentren jüdischen Lebens in Deutschland.
Der Anteil der jüdischen Volksschüler war 1919 mit 257 (0,4 %) von
61.722 Volksschülern4 jedoch niedriger, als er nach dem Bevölkerungs-
anteil zu erwarten gewesen wäre. Das hing u. a. damit zusammen,
dass traditionell jüdische Eltern viel mehr Wert auf eine höhere
Schulbildung legten als die übrige Bevölkerung. Daher war im
Gegensatz zum Volksschulbereich der Anteil jüdischer Schüler in
den Vorschulen (Vorbereitungsschulen auf den Besuch höherer
Schulen) und in den höheren sowie den privaten Schulen erheb-
lich größer.
Die genaue Zahl der jüdischen Schulkinder, die nach 1920 eine
der 147 evangelischen oder katholischen Volksschulen in einem der
ca. 50 Schulgebäude besucht hatten, war nur aus den Teilnehmer-
zahlen am jüdischen Religionsunterricht zu ermitteln. Nach der
Weimarer Verfassung, die völlige Glaubens- bzw. Religionsfreiheit
garantierte, war die Verpflichtung, die religiöse Überzeugung zu
offenbaren, auf die Fälle beschränkt, „als davon Rechte und Pflichten
abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung

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