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Zwierz, Maria [Hrsg.]
Breslauer Schulen: Geschichte und Architektur — Wrocław, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.38676#0055

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Leszek Ziatkowski

Jüdisches Schulwesen in Breslau bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Die Thora, der Pentateuch Moses, ist für jeden Juden die wichtigs-
te Offenbarung, die schriftliche Niederlegung der vom Gott gege-
benen Rechte und der unveränderlichen, unvergänglichen Wahr-
heiten, die immer und überall gültig sind. Die Veränderungen, die
in der jüdischen Gesellschaft im Laufte der Jahrhunderte eintraten,
zwangen (und zwingen) die Bekenner der Thora jedoch, diese
Rechte ständig zu interpretieren und den gegenwärtigen gesel-
lschaftlichen Bedingungen anzupassen. Zu einer eigenen Metho-
dologie der Thora-Interpretation wurde der Talmud (hebräisch „ler-
nen", „studieren"), eine Sammlung von jahrhundertealten Er-
klärungen und Kommentaren der Gelehrten. Die Kenntnis der Thora
und der Interpretation der Gottesrechten - des Talmuds - waren stets
die Grundpflichten eines religiösen Juden.
Auf den Eifer der Juden, die Fähigkeit des Schreibens und
Lesens zu beherrschen, wies schon Joseph Flavius (1. Jhd.) hin.
Die Thora wurde auch von vielen Memoirenschreibern erwähnt,
die hervorhoben, dass die Juden zu größten Opfern fähig seien,
um ihren Kindern Bildungsmöglichkeit zu sichern. Dieses Volk
zeichnete sich allgemein durch Wissbegierde aus, die sich vor allem
aus dem religiösen Eifer sowohl der Eltern als auch der Kinder
ergab.
Ein geeigneter Platz, wo die „Die Heiligen Worte" gelesen, stu-
diert und kommentiert wurden, konnte sich überall befinden.
Im Gegensatz zu einer Kirche, dem Ort des Kultes und Opfers,
erinnerte ein jüdisches Versammlungshaus, „bet ha-knesseth", eine
Synagoge, die Christen eher an eine Schule. Diese Wahrnehmung
von jüdischen Gebetsplätzen verursachte, dass das aus der christ-
lichen Terminologie in die Sprache der aschkenasischen Juden
(Jiddisch) entlehnte Wort „Schule" später im Polnischen wie auch
im Deutschen als Bezeichnung sowohl eines Gebetsortes als auch
einer Bildungsanstalt benutzt wurde.1 Obwohl in mittelalterlichen
Quellen, die sich mit der Tätigkeit der Jüdischen Gemeinde in
Breslau befassten, einige sogenannte Judenschulen erwähnt wur-
den, sollte man diese nicht wörtlich verstehen. Sie waren auf kei-
nen Fall Bildungseinrichtungen in dem Sinne, in dem der Terminus
heutzutage gebraucht wird.
Die gegenwärtige jüdische Gemeinde in Breslau erkannte das
Jahr 1203, also das Datum, das in dem ältesten erhalten gebliebe-
nen jüdischen Grabstein (Mazewe) eingemeißelt ist, als ein sym-
bolisches Datum der Entstehung der jüdischen Gemeinde in der
schlesischen Hauptstadt an. Die heutzutage zur Verfügung ste-
henden Informationen sind leider sehr lückenhaft und spiegeln
nicht alle Aspekte des Lebens dieser Gemeinde im Mittelalter wider.
Über das einheimische Bildungssystem ist nichts Sicheres bekannt.
Man kann nur durch die Analogie zu bekannteren Gemeinden in
Westeuropa schlussfolgern, dass ein solches existierte. Darauf weist
vor allem die deutliche demographische und ökonomische Kraft
der hiesigen Diaspora hin. Auch das Bestehen von Synagogen ist

ein indirekter Beweis für die Existenz traditioneller jüdischer
Bildungsformen. Über ihr Niveau, ihre Schülerzahl oder Ausrüstung
kann man jedoch leider nichts Genaueres sagen.
Es stehen auch keine genaueren Informationen über das heb-
räische Bildungswesen nach der praktischen Reaktivierung einer
beständigen jüdischen Ansiedlung in Breslau in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts zur Verfügung. Die ersten Erwähnungen kom-
men erst aus der preußischen Zeit (zweite Hälfte des 18. Jahr-
hunderts), als die Existenz der jüdischen Gemeinde in der Hauptstadt
Schlesiens bereits rechtlich sanktioniert war. Ein Beispiel, dass
dieTätigkeit des traditionellen jüdischen Bildungssystem in der
Breslauer Gesellschaft gut veranschaulicht, ist der Lebensweg von
Elias Henschel - einem berühmten Arzt und Verbreiter der Ideen
der Haskala. In seiner Karriere spielte die in der jüdischen
Religionsschule „bet ha-midrasch" erworbene Bildung keine ent-
scheidende Rolle. Erst die Ausreise und die langjährige Selbstbildung
ermöglichten ihm, weltliches Wissen und notwendige Berufsfähig-
keiten zu beherrschen2.
Im Prozess der Judenemanzipation wurde, ausgehend von der
deutschen Haskala und Aufklärung immer stärker betont, dass man
das traditionelle Bildungssystem (so genanntes Cheder-System) durch
ein weltlicheres System ersetzen sollte, das den pädagogischen
Normen der christlichen Gesellschaft nach der Aufklärung entspre-
chen konnte. Die Einführung dieser Grimdsätze erwies sich jedoch
als schwierig. Der Grund dafür war nicht nur der Konservatismus
der jüdischen Gesellschaft, sondern vor allem auch die Befürchtung,
dass dadurch die Grundlagen des religiösen Lebens gestört werden
würden. Die neue Schule, mit einem erweiterten Lehrprogramm,
wurde allgemein als eine Gefahr der Abwendung vom Gottesweg
und ein Versuch, das „Bündnis" abzubrechen, empfunden.
In der berühmten Dissertation von Christian Wilhelm Dohm
über die Notwendigkeit einer Verbesserung der Lebensbedingungen
der jüdischen Bevölkerung findet man eine eindringlichen Hinweis
auf die Notwendigkeit, das Bildungsniveau zu erhöhen und die
von den Aufklärern angebotene Richtung zu verfolgen3. Diese
Veränderungen sollten zukünftig die rechtliche Gleichstellung der
Juden mit den anderen Bevölkerungsgruppen des Staats bewirken.
Die rechtliche Gleichstellung ("Verbürgerung") der Juden war für
Dohm nicht Zweck an sich, sondern Teil eines langwierigen, vom
Staat kontrollierten Prozesses, im Zuge dessen die jüdische Gemein-
schaft so gestalter werden Sollte, dass diese sich in Sprache, Sitten
und Weltanschauung der christlichen Mehrheit anpassen würde.
Der praktische Einführung der in Dohms Publikationen gestel-
lten Thesen nahm sich der Minister für Schlesien, Carl Georg
Friedrich von Hoym, an. Am 2E Mai 1970 wurden Vorschriften
veröffentlicht, die die rechtliche imd gesellschaftliche Situation der
Breslauer Juden regelten4. Darunter war auch auch ein separater
Paragraph zu fingen, in dem die Gründung von Schulen für die

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