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Zwierz, Maria [Hrsg.]
Breslauer Schulen: Geschichte und Architektur — Wrocław, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.38676#0091

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Teresa Kulak

Die „Kleine Polnische Schule" in Breslau 1918-1939

In den Erinnerungen der polnischen Einwohner Breslaus aus der
Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nimmt die gegen Ende des Ersten
Weltkrieges ergriffene und als „Kleine Polnische Schule" bezeichne-
te Bildungsinitiative, d.h. legaler Polnischunterricht für Kinder im
Schulalter, eine wichtige Stelle ein. Ab 1918 waren die in Breslau
lebenden Polen, deren Zahl von den dortigen Geheimdiensten auf
11000 Personen geschätzt wurde1, in der Vereinigten Polnischen Gesell-
schaft zusammengefasst. Unter dem Einfluss der revolutionären
Ereignisse wurde von den Polen am 28. November 1918, analog zu
dem am 10. November 1918 gegründeten deutschen Volksrat, der
Polnische Volksrat ins Leben gerufen, an deren Spitze Maksymilian
Maluszek, Drogeriebesitzer, stand2. Der Rat, dem u. a. Ludwik Adam-
czewski, Jadwiga Kaminska, Jan Nowak und Helena Adamczewska
(die Tochter von Ludwik Adamczewski3) als Sekretärin angehörten,
bildete weitere Organisationsstrukturen, wie z. B. das Ortskomitee
zur Reaktivierung der Bildungs- und Kulturtätigkeit oder das
Wohnungskomitee, dessen Aufgabe darin bestand, eine Genehmigung
seitens der Stadtbehörde für den Erwerb oder die Pacht eines ent-
sprechendes Gebäudes für polnische Organisationen zu erlangen.
Letzteres Vorhaben wurde nur teilweise realisiert, in dem drei klei-
ne Räume in dem heute nicht mehr bestehenden Gebäude an der
Neuen Gasse 18 gemietet wurden. In diesen Räumen wurde die
polnische Bibliothek, die 6000 Bände zählte, mit einem Lesesaal ein-
gerichtet. Die Bibliothek und der Lesesaal wurden von Helena
Adamczewska, die die bekannte Breslauer Mädchenoberschule der
Ursulinen absolviert hatte, betreut4. Als Sekretärin des Polnischen
Volksrates ist es ihr gelungen, eine offizielle Einwilligung des sozial-
demokratischen Volksrates in Breslau für einen Polnischkurs für
Kinder polnischer Familien zu erlangen. Nachdem die Bibliotheks-
räume für Unterrichtszwecke adaptiert sowie die notwendige
Schulausstattung wie Schulbänke, Tafeln und andere Schulgeräte
dank der Opferwilligkeit der in Breslau lebenden Polen beschafft
worden waren, konnte noch im Dezember 1918 mit dem Unterricht
begonnen werden. Diese private Bildungsinitiative wurde etwas
übertrieben „Kleine Polnische Schule" genannt. Die Funktion der
Lehrerin übernahm Helena Adamczewska5. Der Unterricht fand zwei
oder drei Mal pro Woche statt und umfasste Lesen, Schreiben, Singen,
Kalligraphie und polnische Geschichte. Die vom Volksrat erteilte
Einwilligung erwies sich als sehr wichtig, denn die vom preußischen
Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung am 31. Dezember
1918 erteilte Genehmigung für den Religionsunterricht in polnischer
Sprache sowie für den Polnischunterricht galt in den östlichen
Provinzen des preußischen Staates nur im Regierungsbezirk Oppeln6.
Die Tradition des privaten Unterrichts der polnischen Sprache
und der polnischen Geschichte für Kinder im Schulalter reicht in
Breslau bis zur Jahrhundertwende (19./.20. Jh.) zurück. Mit dem
Unterricht beschäftigten sich im Geheimen Polinnen aus der umfang-
reichen Gruppe der polnischen Intelligenz, die vor dem Ersten

Weltkrieg in Breslau lebte. Diese Frauen gehörten dem von Izabela
Radonska, Jadwiga Kaminska, Aurelia Zychlinska und Jadwiga Jaro-
chowska (die Ehefrau von Wojciech Jarochowski, dem Professor für
polnische Sprache am katholischen Knabengymnasium St. Matthias)
gegründeten „Verein der Polinnen" an. Private Unterrichtsstunden
in den Wohnungen befreundeter Handwerkerfamilien erteilten auch
polnische Studenten der Universität Breslau. Es ist zum Beispiel
bekannt, dass Wojciech Korfanty, später ein bekannter Politiker und
Anführer der polnischen Bevölkerung in Oberschlesien, sowie Jözef
Kostrzewski, der bekannte Archäologe, sich während ihrer Studien-
zeit in Breslau mit Geheimunterricht befassten. Während des Ersten
Weltkrieges, im Jahre 1918 war auch Stefan Kuczynski7, damals
Medizinstudent und später Arzt in Breslau, in den Geheimunterricht
einer Gruppe von 65 Kindern, die sich zu diesem Zweck in der
Wohnung des Schumachers August Zmudzihski an der Heinrich-
straße 8 versammelten, involviert. Der Entstehung der „Schulischen
Betreuung", einer nach der Beendigung des Krieges spontan gegrün-
deten Organisation polnischer Eltern, deren Kinder legale Schulen
besuchten lag die Tradition des Privatunterrichts zugrunde. In der
Programmerklärung wurde die Aufgabe der „Schulischen
Betreuung" formuliert, die in der „Beaufsichtigung der nationalen,
religiösen und körperlichen Erziehung der Kinder"8 bestehen soll-
te. In die „Kleine Polnische Schule" schrieben sich im Jahre 1918
60 Kinder ein. Da diese Schule nicht den Status der staatlichen
Schule genoss, fand der Unterricht nachmittags, nach der Beendigung
des obligatorischen Unterrichts in deutschen Schulen statt. An Vor-
mittagen arbeitete Helena Adamczewska als Sekretärm im Büro des
Polnischen Volksrates. Ihre Aktivität, die sie als eine Verwirklichung
ihres Traumes - eine polnische Lehrerin zu werden - betrachtete9,
und der sie sich mit voller Aufopferung widmete, wurde durch die
Tuberkulose und den vorzeitigen Tod am 28. August 1919 abge-
brochen. Die Trauermesse für die Verstorbene fand in der Annen-
kirche, in der ab März 1919 polnische Gottesdienste abgehalten
wurden, statt. Sie wurde von Priester Teofil Bromboszcz, dem
Seelsorger der Polen und Religionslehrer an der „Polnischen Schule"
zelebriert. In dieser Funktion folgten ihm später andere polnische
Priester von der Martinikirche. Als letzter erfüllte diese Funktion
bis 1939 Priester Jözef Sikora.
Nach dem Tod von Helena Adamczewska übernahm Zofia
Sokolowska, Mitbegründerin des „Vereins der Polinnen" und bekann-
te polnische Patriotin, die Pflichten der Lehrerin. Diese Funktion
erfüllte sie bis zum 26. August 1920, als die Schule mit den benach-
barten Räumlichkeiten, in welche im Mai jenen Jahres das polni-
sche Generalkonsulat einzog, von nationalistischen Kampftruppen
demoliert wurde. Während dieses Überfalls wurden Schulbänke
zerstört, Bücher zerfetzt und auf die Straße hinausgeworfen10.
Dies sollte ein Racheakt gegen die Polen mit deutscher Staats-
angehörigkeit sein, die geistige Bande mit ihrem wieder errichte-

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