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Zwierz, Maria [Editor]
Breslauer Schulen: Geschichte und Architektur — Wrocław, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.38676#0171

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Danuta Boniecka

Das weiterführende Schulwesen in Breslau nach dem Zweiten Weltkrieg

In Folge der Umsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg lebten in
Niederschlesien Menschen aus ganz Polen und Europa, ja aus der
ganzen Welt. Die Ansiedler waren äußerst heterogen, sie brachten
vielfältigen Erfahrungen nach Breslau mit, lebten auf verschiedenen
kulturellen und zivilisatorischen Niveaus, ihr nationales Bewusstsein
war ebenso unterschiedlich, wie ihre Gebräuche und oft sogar ihre
Sprache.
Der in Niederschlesien neu geschaffene polnische Staat stieß
trotz des Engagements der ersten Siedler auf große Schwierigkeiten.
Auch bei der Organisation polnischer Schulen wurde man mit
zahlreichen Komplikationen konfrontiert.
Die Hauptprobleme des jungen Schulwesens waren:
• das Fehlen geeigneter Gebäude, die ohne größere Renovie-
rungsarbeiten nutzbar gewesen wären,
• der Mangel an Lehrplänen und -büchern (selbst aus der Vor-
kriegszeit),
• unzureichende Unterrichts- und Hilfsmittel,
• fehlende Schulbibliotheken mit polnischer Literatur,
• das Fehlen ausgebildeter Fachkräfte,
• starke Rotation von Schülern und Lehrern,
• ein sehr großer Altersunterschied zwischen den Schülern
innerhalb einer Klassenstufe,
• erhebliche Wissenslücken bei den Schülern.
Die wahren Helden beim Aufbau des niederschlesischen und
damit auch Breslauer Schulwesens waren die polnischen Lehrer.
Sie renovierten und richteten die Schulen ein, organisierten die
Klassen, besorgten Heizmaterial, Lehrbücher, Hefte und Schreibzeug
und gewannen zusätzliche Hilfslehrer und unterrichteten dann diese
im Lehrerberuf.
Die ersten Schüler unterschieden sich von denen späterer Jahre
nicht nur deutlich in Kleidung und Alter (41% der Schüler waren
eigentlich zu alt für ihre Klasse), sondern auch durch ihr äußerst
positives Verhältnis zum Lernen und zur Arbeit für die Schule.
So beteiligten sie sich am Wiederaufbau der Schulgebäude und
halfen, sie in Ordnung zu bringen und Unterrichtsmaterialien und
didaktische Hilfsmittel zu besorgen. Dank dieses Engagements
entstanden erste Verbindungen zwischen den so unterschiedlichen
Jugendlichen.
Wie gesagt stellten die Schüler in Bezug auf Alter, Herkunft,
materiellen Status und intellektuelles Niveau eine heteroge Gruppe
dar, was ihre Erziehung sehr erschwerte - beispielsweise tranken
sie nicht selten Wodka und rauchten1.
Trotz dieser großen Schwierigkeiten wurden weitere Schulen
eröffnet, und zwar in einem beeindruckenden Tempo - neue
Lehrstätten entstanden zunächst jeden Monat, später jährlich. Doch
hatte der schnelle Auf- und Ausbau des Bildungssystems in
Niederschlesien auch negative Folgen: Die Zentralmacht hielt es
nämlich nicht für notwendig, selbst weitere Schulen zu errichten

und überließ die Initiative den lokalen Institutionen. In der Nach-
kriegszeit wurde fast 15 Jahre lang in Niederschlesien nichts ins
Bildungssystem investiert, das änderte sich erst in den sechziger
Jahren des 20. Jahrhunderts. Der wachsenden Bedarf an Schulen
blieb daher natürlich weiter bestehen.
Besonders wichtig war im neu organisierten Schulsystem die
Entwicklung der Mittelschulen. Entsprechend der Verordnung des
Bildungsministeriums vom 16. Juli 1945 blieb nach der Befreiung
die Struktur des mittleren Schulwesens der Vorkriegszeit zunächst
erhalten: Auf die Grundschule folgte das vierklassige so genannte
Gymnasium und danach das zweiklassige allgemeinbildende
Lyzeum mit den Fachbereichen Mathematik und Physik, Human-
und Naturwissenschaften. [Das polnische Gymnasium ist eine
Mittelschule, während das Lyzeum dem deutschen Gymnasium
entspricht und mit dem Abitur abgeschlossen wird, A.d.Ü.]
Eine Neuerung stellte der Ausgleichsunterricht in der ersten Gym-
nasialklasse dar2. Im Schuljahr 1946/1947 wurde das Gymnasium
umorganisiert. Die bisherige erste Klasse wurde abgeschafft und
das nun dreijährige Gymnasium zu einer allgemeinbildenden Mittel-
schule umgestaltet, die sich direkt an die siebenjährige Grundschule
anschloss. Später wurde auch die ehemalige zweite Gymnasialklasse
abgeschafft und allmählich zeichnete sich die Idee des vierjährigen
allgemeinbildenden Lyzeums ab. Zwischen 1945 und 1948 waren
verkürzte Ausbildungen auf Mittelschulniveau möglich - ein
zweijähriges Gymnasium für ältere Jugendliche und eine dreijährige
Mittelschule, die den Lehrstoff von Gymnasium und Lyzeum ver-
mittelte. 1949 wurde schließlich das allgemeinbildende Gymnasium
abgeschafft und das Lyzeum auf vier Jahre erweitert, es schloss sich
nun direkt an die siebenjährige Grundschulausbildung an, die für
alle Kinder obligatorisch war.
Der Sejm der Volksrepublik Polen verabschiedete 1961 das
Gesetz über die Entwicklung des Bildungs- und Erziehungssystems,
das die bisher siebenjährige Grundschule auf acht Jahre erweiterte,
während das vierjährige allgemeinbildende Lyzeum unverändert
blieb.
Den spezifischen Charakter der damaligen Zeit gibt die
Anweisung des Bildungsministers vom 21. Mai 1947 bezüglich der
Organisation des Schuljahres wieder, die die Entscheidungsträger
verpflichtete, sich bei der räumlichen Verteilung der Mittelschulen
vor allem an den Bedürfnissen der örtlichen Arbeiterklasse zu
orientieren. Mit dem Ziel, „das allgemeinbildende Schulwesen weiter
der Gesellschaft und der neuen Wirklichkeit anzunähern," wurden
darüber hinaus seit Mai 1947 Arbeiter in die Kommissionen delegiert,
die die mündlichen Reifeprüfungen abnahmen3. Diese sog. „gesell-
schaftlichen Kräfte" hatten das Vetorecht gegenüber der Prüfungs-
kommission. 1949 wurden ihre Befugnisse allerdings begrenzt, sie
durften nur noch die gesellschaftliche Reife des Kandidaten
beurteilen. Diese „gesellschaftlichen Kräfte" waren auch in den

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