Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zwierz, Maria [Hrsg.]
Breslauer Schulen: Geschichte und Architektur — Wrocław, 2005

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.38676#0202

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Agnieszka Gryglewska

Neogotische Gebäude Breslauer Schulen von Richard Plüddemann
vor dem Hintergrund der deutschen Architektur
des 19. und 20. Jahrhunderts

Das deutsche Schulwesen und der Schulbau
nach der Reichseinigung von 1871
Fürsorgepflicht für verarmte und wehrlose Gruppen der Gesell-
schaft war ein Prinzip, welches tief in der preußischen Ethik wur-
zelte1. Die Tradition paternalistischer Herrschaft über die Gesellschaft
reicht in Preußen bis in das 17. Jahrhundert zurück und schlug sich
in der Ausformung eines neuenartigen, seiner Zeit vorauseilenden
Versorgungssystems aus Schulen, Waisenfürsorge, Heimwesen und
Krankenhäusern nieder. So spielte die Schulbildung nach der
Reichseinigung unter der Ägide Preußens 1871 eine entsprechend
herausragende Rolle in der deutschen Politik. Sie war wesentlicher
Bestandteil der politisch-gesellschaftlichen und kulturell-morali-
schen Ordnung des Staates. Die grundlegenden Verordnungen zu
Bildungsfragen hatten einen verfassungsgleichen Status2.
Dass der Schulbau in Deutschland im 19. Jahrhundert als Mittel
zur Umsetzung von politischen Aufgaben galt, davon zeugen Zitate
aus einem Handbuch für Architekten vom Ende des 19. Jahrhundert.
Darin heißt es unter anderem: „Das Schulgebäude hat auf die körper-
liche und geistige Entwicklung so großen Einfluss wie das Wohn-
gebäude"3, „Wer die Schule hat, gebietet über die Zukunft",
„Die Schule birgt den Keim der Nation, sie bildet das künftige
Geschlecht heran; Schule und häusliche Erziehung sind daher Pflanz-
stätte imd Grundlage gedeihlicher nationaler Entwicklung"4.
Conrad Wilhelm Hase, Architekt und Theoretiker, der der
Neogotik verpflichteten Hannoverschen Schule schrieb 1872, dass:
„... die Einrichtung zweckmäßiger Schulhäuser, und namentlich der
Schulzimmer, für das körperliche und geistige Gedeihen der Kinder,
und in weiterer Folge der ganzen Bevölkerung, von großer
Wichtigkeit" sei. Ziel sei es, dass aus ihnen „... gesunde, geistig fri-
sche und körperlich kräftige echt deutsche Jünglinge und Jungfrauen
hervorgehen"’
Die Reform des deutschen Schulwesens nach 1871 war von
einer eigenwilligen Verknüpfung von Liberalismus und Autorität
gekennzeichnet. Die Forderung nach einer Absicherung einer all-
gemeinen Schulbildung ging dabei zum einen von den Anhängern
humanitären Fortschritts, die darin einen wesentlichen Faktor im
Kampf gegen die Kinderarbeit erblickten, zum anderen vom Militär
aus, welches auf perfekte Rekruten angewiesen war. Die pädago-
gischen Methoden entwickelten sich hauptsächlich unter dem Ein-
fluss des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi. Ihr Ziel
war eine harmonische, sich wechselseitig durchdringende geistige,
moralisch-religiöse und körperliche Formung. Die Theorie sah vor,
dass die Kinder nicht in einer von strengen, äußeren Wertekodexen
geprägten Atmosphäre, sondern in einer Umgebung aufwüchsen,

in der die angeborenen Fähigkeiten des Individuums geweckt und
entwickelt würden. Auf diesem Wege sollte ihm das Vertrauen in
die eigene Kraft und die Wahrnehmung der Pflichten, die durch
das eigene Gewissen diktiert würden, gelehrt werden. In der Praxis
jedoch wurde von den in staatlichen Institutionen ausgebildeten
Lehrern erwartet, dass sie den Schülern gleichermaßen Tugenden:
„eines unabhängigen, vom eigenen Gewissen geleiteten Menschen
wie auch automatische Regungen eines loyalen und dankbaren
Untertanen "6 vermittelten. Es wäre jedoch einseitig, die Schule der
Kaiserzeit allein als eine vom autoritären Staat „besetzte" „Schule
der Untertanen" zu verstehen, denn schließlich stellte sie doch
zugleich die Schule einer modernen Industriegesellschaft und staat-
lichen Verfassung dar7.
Seit Beginn der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts erarbeiteten in
einigen deutschen Ländern spezielle Kommissionen, die sich aus
hervorragenden Ärzten, Architekten und Pädagogen zusammen-
setzten, Programme für den Schulbau, die den modernen Ansprüchen
entsprechen sollten’. Die grundlegenden preußischen Normen stüt-
zen sich in diesem Zeitraum auf die am 15. Oktober 1872 verab-
schiedeten „Allgemeinen Bestimmungen betreffend das Volksschul,
Präparanden- und Seminarwesen"9.
Studienreisen, die die Spezialistengruppen für den Schulbau
durchführten, ermöglichten, die Fortschritte in diesem Bereich des
Bauwesens in ganz Deutschland zu beobachten. Dies förderte die
Angleichung seines technischen und funktionalen Niveaus in den
verschiedenen Ecken des Landes sowie die Verbreitung der besten
Lösungen. Die Architektur der Schulbauten hatte den Anforderungen
an Funktionalität, Hygiene und Ökonomie zu entsprechen. Dabei
behandelten die deutschen Bauvorschriften den Schulbau ähnlich
dem Bau von Einrichtungen des Gesundheitswesens. Er musste ein
Mindestmaß an Lichteinfall sowie Luftzufuhr absichern und der-
art eingerichtet sein, dass Sauberkeit und Ordnung leicht gewahrp
werden konnten. Die zunehmend restriktiv gehandhabten sanitä-
ren Anforderungen hatten dabei eine grundlegende Bedeutung, die
jene der Funktionalität und der architektonischen Gestaltung über-
stieg10. Bereits um 1850 waren die funktionalen Rahmenbedingungen
für die Planung von Schulbauten Umrissen worden, die den Schülern
den geforderten Raum für Unterricht und Erholung absichern soll-
ten. Die Unterrichtsräume waren in den Ausmaßen und Proportionen
so zu gestalten, dass den Kindern eine ausreichende Luftmenge zur
Verfügung stand, alle Bänke einen unmittelbaren Lichteinfall auf-
wiesen sowie auch die am weitesten entfernt sitzenden Schüler die
Tafel gut sehen konnten. Fußböden, Decken und Wände wurden
so ausgeführt, dass ihre Sauberkeit lange zu erhalten war. Es waren

192
 
Annotationen