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Zwierz, Maria [Hrsg.]
Breslauer Schulen: Geschichte und Architektur — Wrocław, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.38676#0165

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Jolanta Szablicka-Zak

Pädagogische Konzepte im deutschen Schulwesen
des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Vor allem unter Einfluss der pädagogischen Theorien von Johann
Friedrich Herbart, aber auch von Johann Heinrich Pestalozzi,
entwickelte sich im 19. Jahrhundert in Europa eine klare Vorstellung
von der traditionellen Schule, in der didaktischer Formalismus,
übertriebener Intellektualismus, schablonenhaftes Denken und
eiserne Disziplin dominierten. Im Zusammenhang damit war der
Schüler auf ein passives, lediglich rezipierendes Wesen reduziert1.
Seit Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis zum
Ausbruch des 1. Weltkrieges war die Pädagogik der traditionellen
Schule vor allem in der Ausrichtung der Herbartianer in allen
europäischen Staaten mit einer Monarchie und militaristischen
Tendenzen vorherrschend - also in Deutschland, Österreich, Italien,
Russland sowie teilweise auch in England und Frankreich. Besonders
deutlich wird dies in Deutschland unter Otto von Bismarck. Damals
instrumentalisierte man die Schule mit ihrer elitären und autoritären
Erziehung und der tiefen Loyalität gegenüber Staatsmacht und
Gesetz für die Schaffung einer starken Armee und einer effektiven
Verwaltung. Als vorbildlich galten die tapferen Kämpfer von Sparta
und die Bürger des Alten Roms. An den neunjährigen Gymnasien
zum Beispiel herrschte eiserne Strenge und die Schüler wurden wie
willenlose Objekte des Lernens behandelt, allerdings wurde ihnen
ein solides enzyklopädisches Wissen vermittelt.
Auch die Pädagogik in den Vereinigten Staaten von Amerika
war von den Herbartianern beeinflusst, allerdings kündigten sich
dort schon Ende des 19. Jahrhunderts Veränderungen an, die im
folgenden Jahrhundert die Erziehung in Theorie imd Praxis ver-
wandeln sollten. Es entwickelte sich eine breite Strömung, die
versuchte, die Schule zu erneuern sowie Unterrichtsinhalte und
Erziehungsmethoden zu verändern. Diese Bewegung nannte man
in Amerika Progressivismus, in Europa dagegen „neue Erziehung"
oder „neue Schule"2.
Das 1900 von Ellen Key herausgegebene Buch Das Jahrhundert
des Kindes, in dem Individualität in der Erziehung gefordert wurde,
war ein wichtiger Wegbereiter der „neuen Erziehung". Innerhalb
dieser Bewegung standen zuweilen unterschiedliche Tendenzen in
Opposition zueinander. Die „neue Erziehung" war niemals homogen,
denn sie reagierte auf die Bedürfnisse unterschiedlicher gesellschaft-
licher Gruppen. Sie entstand im Zusammenhang mit der Kritik an
der traditionellen Schule und vereinte Pädagogen, Psychologen,
Philosophen, Ärzte und Architekten, die davon überzeugt waren,
dass Kinder aktive Subjekte im Lern- und Erziehungsprozess sein
müssen. In vielen Ländern waren wichtige Vertreter der „neuen
Schule" tätig, besonders erwähnt werden sollen hier ihr Wegbereiter,
der amerikanische Philosoph und Psychologe John Dewey, der die
Pädagogik des Pragmatismus entwickelte, der Schweizer Pädagoge
Edouard Claparede, Vorreiter der experimentellen Pädagogik und

der Theorie der „funktionalen Erziehung" („Schule entsprechend
den Bedürfnissen des Kindes"), der belgische Arzt und Pädagoge
Ovide Decroly, der die Methode der „Interessenszentren"
entwickelte, die italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori,
die die Vorschulpädagogik reformierte, der Schweizer Pädagoge
Adolf Fernere - Mitbegründer der „aktiven Schule", der französische
Pädagoge Celestin Freinet, dessen Methode auf dem freien Ausdruck
und der schöpferischen Tätigkeit des Kindes beruht, der österrei-
chische Anthroposoph Rudolf Steiner, der die Waldorfschule
entwickelte und schließlich der Arzt, Pädagoge und Schriftsteller
Janusz Korczak, Kämpfer für die Rechte der Kinder und aller
Menschen. In Europa entwickelten sich die Ideen der „neuen
Erziehung" zunächst nur im kleinen Maßstab und langsam, vor
allem angesichts der noch immer deutlichen Dominanz der
traditionellen Schule, deren Niedergang erst der 1. Weltkrieg brachte.
In Deutschland wird die pädagogische Bewegung, die zwischen
1890 und 1933 in Opposition zur traditionellen Schule stand,
Reformpädagogik genannt. Parallel zu einer deutlichen Kulturkritik
wurde versucht, das Unterrichtssystem zu erneuern. Uber die zeit-
liche Eingrenzung der Reformpädagogik gibt es, wie häufig in solchen
Fällen, verschiedene Ansichten! 1890 gilt als Jahr des Umbruchs in
der deutschen Geschichte, da der Staatsaufbau abgeschlossen war
(symptomatisch die Amtsenthebung von Kanzler Bismarck), 1933
wiederum fand die Weimarer Republik mit der Machtübernahme
durch die Nationalsozialisten ihr Ende.
Die Reformpädagogik schöpfte aus den weltweit verbreiteten
Ideen der „neuen Erziehung" und beteiligte sich gleichzeitig an ihrer
weiteren Ausarbeitung. Trotzdem war sie vor allem auch eine deutsche
Entwicklung4, deutlich geprägt von zwei spezifisch deutschen
Faktoren.
Zum einen handelt es sich hierbei um das Werk von Friedrich
Nietzsche (1844-1900), dem erbarmungslosen Kritiker der damaligen
Kultur (nicht nur der deutschen), im Grunde genommen einer
bürgerlichen Kultur, sowie der gängigen pädagogischen Ideale,
Werte, Inhalte und Methoden. Seine Werke - Also sprach Zarathustra,
David Strauss: der Bekenner und der Schriftsteller, Vom Nutzen und
Nachtheil der Historie für das Leben - drangen erst um 1890 allmählich
in das öffentliche Bewusstsein, obwohl Nietzsche sie mehr als
10 Jahre zuvor verfasst hatte. Er kritisierte den Historizismus, den
Rationalismus und die Wissenschaftsgläubigkeit und stellte dem
gebildeten, Kultur nur rezipierenden, nicht schöpferischen „Philister"
den Künstler gegenüber - einen wirklich freien und kulturvollen
Menschen. Des weiteren lehnte er die Unterordnung von Schule
und Ausbildung unter den Staat ab. Die Schule solle frei sein,
unabhängig von staatlichen Strukturen, die immer das Gegenteil
von Freiheit bedeuten. Nietzsche verurteilt die kleinliche Fixierung

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