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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0078

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Jean Paul
Unterm Zifferblatt der Ewigkeit

Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf ei-
nem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf
dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die elf
Uhr schlug, hatten mich geweckt. Ich suchte im ausgeleerten
Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinster-
nis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan,
und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter un-
sichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schat-
ten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in
der bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als
die Kinder. Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer
schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer nä-
her, enger und heißer hereinzog. Über mir hört' ich den fernen
Fall der Lawinen, unter mir den ersten Tritt eines unermeßli-
chen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von
zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr miteinander kämpf-
ten und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen woll-
ten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer
hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zer-
schmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende
Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei
Gift-Hecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch
unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt wa-
ren. - Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte
und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Toter, der erst
in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen oh-
ne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht
stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hinein-
trat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam
ziehend das schwere Augenlied auf, aber innen lag kein Auge,
und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wun-
de. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebete;
aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die
Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand
das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und
 
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