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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 23.1908

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Widmer, Karl: Zur Ästhetik des Ess-Tischs
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https://doi.org/10.11588/diglit.6701#0325

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ZUR ÄSTHETIK DES ESS-TISCHS.

Die Kunst, einen Tisch zu decken, ist ein Stück
Lebenskultur, das mit der Kunst, zu kochen,
bei den einzelnen Völkern bekanntlich nicht immer
auf gleicher Höhe steht. Gewiß verdient die deut-
sche Küche vor der englischen in vielen Dingen
den Vorzug. Aber in den Ansprüchen, die sie an
eine gefällige Erscheinung des gedeckten Tischs
machen, sind die Engländer uns Deutschen heute
noch weit voraus. Es hängt das mit der ganzen
Art der englischen Geselligkeit zusammen. Der
Engländer pflegt keine repräsentative, sondern eine
intime Gastlichkeit. Der Gast bringt keine Störung
in den gewohnten Gang des häuslichen Lebens,
und der Familientisch ist jeden Abend zum Empfang
von Gästen bereit. Es gibt also in England keinen
prinzipiellen Unterschied zwischen festlichem und
alltäglichem Tischarrangement. An einem ge-
schmackvoll hergerichteten Tisch zu speisen, ist
dort ein allgemeines Bedürfnis, für das die strenge
Gebundenheit der gesellschaftlichen Sitten auch
eine feste Tradition geschaffen hat. Wie für das

Verhalten bei Tisch, so sind auch für das Decken
des Tisches bis ins Einzelne hinein feste Regeln
vorgeschrieben. Es zeigt sich darin, wie in allem,
das überlegene Gefühl des Engländers für Stil im
Sinn einer geordneten Kultur der äußern Lebens-
formen.

Dieser Mangel an einer bewährten und all-
gemein gültigen Tradition macht sich bei uns in
Deutschland gerade beim Arrangement festlicher
Tafeln am meisten fühlbar. Auch die künstlerische
Stimmung, die der Festtisch verbreitet, soll sich
aus dem Zweck der Sache ergeben; sie soll ein
erhöhtes Gefühl des Behagens sein. Vor allem
darf also die Bequemlichkeit nicht unter dem
Arrangement leiden. DieVerstöße dagegen fangen
aber bei uns schon mit der Form des Tisches
selbst an. Unsere Eßtische sind durchschnittlich
viel zu schmal. In England und in Frankreich
messen sie bis zu anderthalb Meter und darüber;
bei uns gilt ein Meter schon für eine normale
Breite. Das erschwert natürlich das Arrangieren

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