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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 55.1924-1925

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Koch, Alexander: Praktische Kunstanschauung in den Schulen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9178#0036

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PRAKTISCHE KUNSTANSCHAUUNG IN DEN SCHULEN.

VON ALEXANDER KOCH.

Es handelt sich hier nicht darum, einem drin-
genden „Bedürfnis" abzuhelfen, es handelt
sich vielmehr darum, einem tatsächlichen
Mangel zusteuern. Im Lehrplan unserer Volks-
und Mittelschulen sowohl, als auch der höhe-
ren Lehranstalten, ist merkwürdigerweise für
eines der wichtigsten Fächer, „die praktische
Kunstanschauung", bis heute noch kein Platz.
Unsere Schulerziehung neigt fast ausschließ-
lich zur Ausbildung des abstrakten Denkens
hin, sie erwartet alles Heil von der Erkenntnis,
sie ist rein intellektuell gerichtet. Das ganze
weite Ackerland des Intuitiven aber ist ent-
weder nur teilweise bestellt oder liegt ganz
brach. Es ist also an der Zeit und durchaus
verständlich, daß eine Reform der Volkser-
ziehung zu Gunsten des Künstlerischen
eintritt. Und dieser bevorstehenden Reform
gegenüber scheint es angemessen, das lebens-
notwendige Ziel, das dieser Umwandlung vor-
schweben muß, zu betonen. Dieses Ziel heißt:
Erziehung des Schülers auf die Ge-
schmacksbildung hin, auf ein lebendiges
Sehvermögen, wie er es in tausend Fällen des
täglichen Lebens nötig hat, auf die Urteils-
fähigkeit vor künstlerischen oder kunsthand-
werklichen Dingen, wie sie ihm bei mannig-
fachen Gelegenheiten in seinem zukünftigen
Dasein nützen kann.

Die Lehrbarkeit und Erlernbarkeit dieser
Dinge steht außer Zweifel. Interesse bei den
Schülern wird im großen Ganzen vorhanden
sein, und wo es nicht vorhanden ist, kann es
nach erprobten pädagogischen Methoden ge-
weckt werden. Es dürfte niemand bestrei-
ten, daß Stilkunde so faßlich gemacht wer-
den kann, wie etwa Erdkunde; daß gerade
beim Kinde der Sinn fürs Konkrete gegen-
über dem Sinn fürs Abstrakte bei weitem
überwiegt, daß also, praktisch gesprochen, eine
bildhafte Wiedergabe des Straßburger Mün-
sters einen intensiveren und somit erziehe-
rischeren Eindruck auf einen Sekundaner macht,
als selbst Goethe's glänzende Schilderung in
„Dichtung und Wahrheit". Und warum sollte
da ein Mädel, das Regeldetri und Chemie er-
lernt, nicht ebenso gut oder viel eher einen
guten Farbakkord sehen lernen, warum nicht
ein Junge, der die stilistischen Gewähltbeiten
in der Sprache der Klassiker begreift, die klare
Liniensprache eines Innenraumes oder einer
kunstgewerblichen Arbeit verstehen können?

Ziel aller Erziehung ist doch letzten Endes
die Ausstattung mit dem besten Rüstzeug für
das praktische Leben. Ich muß hier den Un-
terschied zwischen Gebildetheit und Bildung
machen. Solang die Schulreform lediglich auf
die Zuführung neuen Bildungsstoffes bedacht
ist, bleibe ich skeptisch. So mancher Schüler
wird, ebenso wie er die Ereignisse des sieben-
jährigen Krieges vergißt, auch kunsthislorische
Tatsachen nur äußerlich aufnehmen und wieder
vergessen, wenn nicht ein Hauch lebendiger
Anregung sie in ihm wachhält. Und gerade
diese Anregung wird ihm der praktische An-
schauungsunterricht geben. Dieser Sinn für das
Schöne, Geschmackvolle und Gediegene im
Alltäglichen wird ihm durch seine Zukunft zum
Führer werden, wenn nur der Schößling rich-
tig gepflanzt und behandelt wird. Ich kann hier
aus eigener Erfahrung reden: wie oft kommen
jüngere Menschen zu mir und sagen mir: „hätte
ich mir nicht aus angeborenem Interesse für
die Sache in jahrelangen Selbst-Studien in fach-
wissenschaftlichem Unterricht und durch das
schulende Anschauungsmaterial unserer guten
deutschen Kunstzeitschriften, die nötigen Kennt-
nisse erworben, ich hätte, als ich heiratete und
mir ein Heim einzurichten begann, ratlos
und verzweifelt dagestanden I" Und wem unter
uns wäre es nicht ebenso ergangen? Seien wir
offen: wer von uns, er sei denn Fachmann ge-
worden, hat in seinem späteren Leben Algebra
und Trigonometrie anzuwenden gehabt, hin-
gegen wer unter uns ist nicht in die Lage ge-
kommen, Geschmack und Urteilsvermögen in
künstlerischen Dingen aufzubieten, zur Wahl
von Tisch, Bett und Schrank, von Bodenbelag
und Wandschmuck, wer hätte das allereinfach-
ste Sehenkönnen niemals nötig gehabt?

Wenn die Schulreform in ihrer tätigen Aus-
führung mit dem alten Mißstand bricht, der
Kunstanschauung allgemeiner und praktischer
Art dem Belieben des Lehrenden anheimstellte
und diese lebenswichtige Erziehung gewisser-
maßen als Nebensache unter den Hut eines
Hauptfachs einschmuggelte — wo natürlich
auch die Nebensache nebensächlich behandelt
und aufgefaßt wurde — alsdann wird es passend
sein, als erstes die Lehrerfrage für das neu ein-
zurichtende Fach zu berühren. Ich glaube, ihr
wird in diesem Falle zu viel Gewicht beige-
messen. Im Lehrkörper beinahe jeder Schule
werden sich sicher einige interessierte, kunst-
 
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