BETRACHTUNG ÜBER DAS SPEISEZIMMER.
Hier hilft kein Leugnen, Essen, man kann auch
das beschönigende „Speisen" dafür setzen,
Essen meint immer einen animalischen, auf gut
deutsch gesagt tierischen Vorgang. Andrerseits
ist unstreitig, daß die beiden oftgebrauchten
Begriffe Kultur und Zivilisation gerade das um-
fassen, was uns aus dem Zustand des dumpfen,
bewußtlosen Tiertums in den klaren, göttlich
bewußten Zustand des Menschseins heraufhebt.
Wo aber ließe sich deutlicher die Stufe der
Kultur, auf der der Mensch steht, ablesen, wie
da, wo ein im Grunde Biologisches infolge der
Erziehung des Menschengeschlechts zu einem
absolut Menschlichen, zu einem gesellschaftlich
Heiteren geadelt und veredelt ist? Demgemäß
sind feine Tischsitten der sichtbare äußere Grad-
messer des welthaften Mannes. Und da der
Tatbestand, daß man speisen muß, sich nicht
ändern läßt, verlangt neben dem „Wie man ißt"
und dem „Was man ißt" auch das „Wo man
es^ tut" sein Recht und tritt in den gesetz-
mäßigen Ablauf ein. Ergo, das Speisezimmer,
m dem Menschen von Haltung und Anstand
heutzutage zu Tisch sitzen, bezeichnet in seinem
Wesen durch seinen sternmeilenweiten Unter-
schied von dem Winkel einer Höhle im Nean-
dertal, in dem der Urwohner Europens seinen
Hunger stillte, genau die Entwicklungshöhe,
die wir Sterblichen bisher erreicht haben.
Ich glaube nicht an die Zukunft der Nährsalz-
pille, das heißt ich glaube an die Unaussterb-
lichkeit des Speisezimmers. Erfahrne Frauen
haben mir gegenüber versichert, daß es Männer
gäbe, bei denen die Liebe durch den Magen,
also via Speisezimmer, gehen soll; trotzdem
hege ich hierzu begründete Zweifel. Aber ich
muß von mir selbst bekennen, daß mir ein helles
heiteres Speisezimmer ein überaus angenehmer,
ermutigender Eindruck ist. Warum auch nicht?
Ist doch das Speisezimmer mit blinkender Tafel
die schönste Ruhmeshalle der Gastfreude und
-freundschaft, das Ehrengemach kulinarischen
Genießens, Bühne und Schauplatz, wo sich in
guten harmonischen Formen tagtäglich ein hie-
nieden Unabänderliches vollzieht, kurz, eine
Stätte wahrer Erdenseligkeit, theodor lautner.
XXVIII. OH.-NOT. 1924.
Hier hilft kein Leugnen, Essen, man kann auch
das beschönigende „Speisen" dafür setzen,
Essen meint immer einen animalischen, auf gut
deutsch gesagt tierischen Vorgang. Andrerseits
ist unstreitig, daß die beiden oftgebrauchten
Begriffe Kultur und Zivilisation gerade das um-
fassen, was uns aus dem Zustand des dumpfen,
bewußtlosen Tiertums in den klaren, göttlich
bewußten Zustand des Menschseins heraufhebt.
Wo aber ließe sich deutlicher die Stufe der
Kultur, auf der der Mensch steht, ablesen, wie
da, wo ein im Grunde Biologisches infolge der
Erziehung des Menschengeschlechts zu einem
absolut Menschlichen, zu einem gesellschaftlich
Heiteren geadelt und veredelt ist? Demgemäß
sind feine Tischsitten der sichtbare äußere Grad-
messer des welthaften Mannes. Und da der
Tatbestand, daß man speisen muß, sich nicht
ändern läßt, verlangt neben dem „Wie man ißt"
und dem „Was man ißt" auch das „Wo man
es^ tut" sein Recht und tritt in den gesetz-
mäßigen Ablauf ein. Ergo, das Speisezimmer,
m dem Menschen von Haltung und Anstand
heutzutage zu Tisch sitzen, bezeichnet in seinem
Wesen durch seinen sternmeilenweiten Unter-
schied von dem Winkel einer Höhle im Nean-
dertal, in dem der Urwohner Europens seinen
Hunger stillte, genau die Entwicklungshöhe,
die wir Sterblichen bisher erreicht haben.
Ich glaube nicht an die Zukunft der Nährsalz-
pille, das heißt ich glaube an die Unaussterb-
lichkeit des Speisezimmers. Erfahrne Frauen
haben mir gegenüber versichert, daß es Männer
gäbe, bei denen die Liebe durch den Magen,
also via Speisezimmer, gehen soll; trotzdem
hege ich hierzu begründete Zweifel. Aber ich
muß von mir selbst bekennen, daß mir ein helles
heiteres Speisezimmer ein überaus angenehmer,
ermutigender Eindruck ist. Warum auch nicht?
Ist doch das Speisezimmer mit blinkender Tafel
die schönste Ruhmeshalle der Gastfreude und
-freundschaft, das Ehrengemach kulinarischen
Genießens, Bühne und Schauplatz, wo sich in
guten harmonischen Formen tagtäglich ein hie-
nieden Unabänderliches vollzieht, kurz, eine
Stätte wahrer Erdenseligkeit, theodor lautner.
XXVIII. OH.-NOT. 1924.