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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 55.1924-1925

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H. R.: Gibt es "totes" Material?
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https://doi.org/10.11588/diglit.9178#0278

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GIBT ES „TOTES"
MATERIAL?

Die Franzosen spre-
chen von „nature
morte". Wir reden
im Kunstgewerbe von
„totem" Material, das
der Künstler formt, or-
ganisiert, zum Leben
erweckt. — Ein son-
derbarer , befremdli-
cher, ja schauerlicher

Sprachgebrauch.--

Tote Natur? Toter
Stoff? Ist es nicht ei-
ne Gedankenlosigkeit
ohnegleichen, derlei
Worte in den Mund
zu nehmen? Was ist
Natur andres als Le-
ben? Und was kann
jelebendigeForm wer-
den, was nicht schon
vorher eine Lust, ein
Hindrängen zum Le-
ben hatte? Kann ein
Goldschmied zu den-
ken wagen, ein schö-
ner Stein, ein Stück ed-
len Metalls sei „tot"?
— Hat der Stoff, sei
es Stein und Metall,
sei es Holz, seien es
Farben, Pinsel und
Leinwand - haben die-
se Stoffe keine „See-
le"? Hdben sie nicht
hundert wunderschö-
ne, wertvolle Tugen-
den? Haben sie nicht
eine Verwandtschaft
zu des Menschen Hand
und Werkzeug, stehen
sie nicht in innigster

Fühlung zu unserm Ausdrucksstreben, zu un-
sern Vorstellungen, Empfindungen, Sinnen und
Gedanken? Haben sie nicht einen Willen und
einen Gehorsam, kommen sie uns nicht tau-
sendfach entgegen? Glänzt im Gold nicht
etwas von der Sonne? Weiß der Smaragd
nicht unserm Auge wohlzutun ? Erregt der Ru-
bin nicht die Sphäre der Leidenschaften?

Es gibt kein „totes" Material für den Künst-
ler. Selbst die starrsten, metallischen Stoffe
kennen Liebe und Haß. Wie können sie auf-
brausen und sich erzürnen, wie können sie
zueinanderstreben, wie können sie das Edelste

hugo gorge—wien. »laterne« messing poliert,

und Geistigste sagen!
— Wie könnte der
Geist diese tiefe Ver-
wandtschaf t zumStof f e
haben, wenn beide
nicht durch das ihnen
gemeinsam innewoh-
nende Leben verbun-
den wären ? Selbst in
den alten "gnostischen
Lehrsystemen, die
Geist und Stoff sonst
sehr scharf auseinan-
derhalten, lebt im Stoff
immer die ungestüme,
unerhörte Sehn-
sucht, die Sehnsucht
nach der befruchten-
den und formenden
Kraft der Höhe. —
Stoff lebt, Stoff tönt
und scheint, glänzt und
spricht. Stoff ist nicht
tot, er schläft nur. Und
was wir seine „Ver-
lebendigung" nennen,
ist nichts als das Auf-
wecken des Lebens,
das in ihm ruht. h. r.
*

Das künstlerische
Erlebnis kann sich
kraft der charaktero-
logischen Eigenart sei-
nes Trägers garnicht
anders entfalten, als
in der Gestaltung zum
Kunstwerk. Je ab-
sichtsloser der Künst-
ler lebt, desto teleolo-
gischer. Nur das kleine
Talent drängt fiebernd
nach Anregungen, im-
mer in Furcht, etwas
zu versäumen. Das Genie überläßt sich seinem
strengen Schicksal, weil es weiß oder ahnt, daß
nur so seine Sendung sich erfüllt. Und es ist
keine passive Hingabe. Die heutige Psychiatrie
hat gezeigt, wie Selbstzergliederung den Anfang
der Persönlichkeits-Entfremdung und Persön-
lichkeits-Spaltung bildet, und daß in leiden-
schaftlicher Zuwendung an sachliche Aufgaben
die Persönlichkeit sich nicht verliert, sondern
erst entfaltet. Gerade dies gilt vom Leben und
Wirken des Künstlers! Wenn die Lebenswoge
ihn zu überschwemmen droht, erhebt siegend
sich die Kraft des Schaffens I . . . . emil utitz.

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