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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 55.1924-1925

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Sydow, Eckart von: Stil-Wille und Stil-Voraussetzung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9178#0072

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Stil- Wille und Stil- Voraussetzung.

Diese vielfältigen Mißerfolge erschrecken
den Zuschauer, — sie ergreifen ihn mit umso
größerer Schärfe, je inniger er den Experimen-
tatoren zugewendet war und je mehr er ihnen
Intensität und Aufrichtigkeit zubilligen muß.
Fast automatisch kehrt er sich ab von diesem
zerrüttenden Schauspiel vergeblicher Mühsal,
wendet er sich hin zu den ursprünglicher flies-
senden Quellen naturvölkischer, primi-
tiver Kunstkraft. Hier allein ist in weiten
Bezirken das gegeben, was in der modernen
Formulierung als Kraft des Stils im überper-
sönlichen Sinne gepriesen und gefordert wird.

Denn hier in der naturnahen Primitivität ist
all das gegeben, was in seinen einzelnen Mo-
menten längst als Bestandteil des Stilbegriffs
erkannt war: die unmittelbare Gegebenheit
und Eingebung, das überpersönliche religiöse
Fluidum als unangetasteter Mutterboden, das
Verwachsensein der künstlerischen mit den
sozialen, ethischen, magischen Elementen der
primitiven Gesellschaft.

Alles dies hätte man in der modernen Welt
irgendwie ähnlich schaffen können. Aber ein
Merkmal wäre bei dem besten Willen jetzt nicht

mehr zu finden, nicht mehr zu erzeugen oder
zu erzwingen: die künstlerische Durchbildung
jedes Individuums von Grund aus. Ja, diese
Formulierung selbst ist noch zu schwach, da
in ihr das individuelle Wesen als Voraussetzung
erscheint, zu welcher das Ästhetische gleich-
sam von außen hinzutritt — in der Primitivität
aber ists umgekehrt: das Individuum tritt an
das Ästhetische heran und gibt ihm einen nur
wenig persönlich gefärbten Charakter. Wo wir
die Primitiven untersuchen, finden wir überall
dies primäre Vorwiegen der künstle-
rischen Funktion — von der Bemalung
und Tätowierung im gewöhnlichen tagtäglichen
Dasein bis zur Rezitation magischer Formeln,
deren Kraft fast ausschließlich in ihrer geheilig-
ten Form, nicht etwa in der Intensität persön-
licher Frömmigkeit des Beters, liegt.

Dies ist der wesentliche Punkt des Mißlingens
jedweder willenshaften Stilprägung auf jed-
wedem Material unserer Zivilisation — die un-
mittelbare Übermacht der ästhetischen Funktion
fehlt. Nur dort, wo diese wirksam ist, so wirk-
sam ist, wie in der primitiven Welt, nur dort
darf man wahrhaften Stil erhoffen, e. v. sydow.
 
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