FRAUEN-HANDARBEIT UND DIE ZEIT.
Ich erinnere mich, als ich ein Kind war, wurde
mir einmal ein altes handgearbeitetes Stick-
bild gezeigt, das meine Großmutter oder Ur-
großmutter in der hingegebenen Bemühung von
sieben langen furchtbaren un d fruchtbaren Jahren
gefertigt hatte. Es war eine rechtschaffene, bie-
dermeiermodische Sache, Füllstickerei auf
selbstgewobnemStramin, mit gediegenen Farben
und in braven Formen stand eine in sich ver-
sunkene, stillebige Septemberlandschaft da, mit
erntenden Bauern im Hintergrund und rasten-
dem Jägervolk vorne rechts an der Waldecke.
Was mich davor ergriff, war neben dem heiligen
Gedanken, daß es meine Ahnin war, die dies
Wunderwerk vollbracht hatte, nicht sosehr das
Sujet des anmutigen Gewirkes. Auch die Art,
wie dies alles dereinst zusammenkam, machte
mir kaum einen Eindruck. Ich hatte noch nicht
Augen, die geflissene, saubere, peinlich sorg-
fältige Arbeit zu erkennen, noch nicht Verständ-
nis genug, mir die Unsumme an Liebe, Mühsal,
Hingabe,Geduld, WerkfreudeundTüfteleizu ver-
gegenwärtigen, die sie zu dem Bilde aufbrachte.
Eines aber erfüllte mich davor mit Ehrfurcht
und Respekt, nämlich daß eine Zeitspanne, so
lang wie mein eigenes kleines Leben, eine
Zeitspanne, in der das ewige Werden und Ver-
gehen tausend Millionen Dinge erschuf, und
ebensoviel wieder vernichtete, zu dieser Arbeit
verwandt worden war, das rührte mich damals
schon, wie eine fromme Geschichte aus den
Tagen der Erzväter, wie ein Ton aus einem an-
dern, unwiederruflich dahingegangenen Leben.
Soll ich die Geschichte weiter erzählen? Sie
ist bald zu Ende. Das schöne alte Stück ist
heute längst in meinem Besitz, und obwohl ich
nun viel mehr Freude dran habe als damals,
und ich sogar tüchtig stolz darauf bin, im Grunde
geht es mir noch genau so, wie es mir als Kind
ging, der Zeitaufwand, der in dieser Stickerei
steckt, imponiert mir am meisten. Und er be-
fremdet mich und trennt mich deshalb von
einem ganz einfältigen Genießen-Können dieser
schönen Sache. Ich bin vielleicht nicht ganz
gegen Willen in unsere raschere, scbnellebige
Epoche geboren, ich liebe das Tempo unseres
XiVIII. Okt.-Nov. 1924. 11
Ich erinnere mich, als ich ein Kind war, wurde
mir einmal ein altes handgearbeitetes Stick-
bild gezeigt, das meine Großmutter oder Ur-
großmutter in der hingegebenen Bemühung von
sieben langen furchtbaren un d fruchtbaren Jahren
gefertigt hatte. Es war eine rechtschaffene, bie-
dermeiermodische Sache, Füllstickerei auf
selbstgewobnemStramin, mit gediegenen Farben
und in braven Formen stand eine in sich ver-
sunkene, stillebige Septemberlandschaft da, mit
erntenden Bauern im Hintergrund und rasten-
dem Jägervolk vorne rechts an der Waldecke.
Was mich davor ergriff, war neben dem heiligen
Gedanken, daß es meine Ahnin war, die dies
Wunderwerk vollbracht hatte, nicht sosehr das
Sujet des anmutigen Gewirkes. Auch die Art,
wie dies alles dereinst zusammenkam, machte
mir kaum einen Eindruck. Ich hatte noch nicht
Augen, die geflissene, saubere, peinlich sorg-
fältige Arbeit zu erkennen, noch nicht Verständ-
nis genug, mir die Unsumme an Liebe, Mühsal,
Hingabe,Geduld, WerkfreudeundTüfteleizu ver-
gegenwärtigen, die sie zu dem Bilde aufbrachte.
Eines aber erfüllte mich davor mit Ehrfurcht
und Respekt, nämlich daß eine Zeitspanne, so
lang wie mein eigenes kleines Leben, eine
Zeitspanne, in der das ewige Werden und Ver-
gehen tausend Millionen Dinge erschuf, und
ebensoviel wieder vernichtete, zu dieser Arbeit
verwandt worden war, das rührte mich damals
schon, wie eine fromme Geschichte aus den
Tagen der Erzväter, wie ein Ton aus einem an-
dern, unwiederruflich dahingegangenen Leben.
Soll ich die Geschichte weiter erzählen? Sie
ist bald zu Ende. Das schöne alte Stück ist
heute längst in meinem Besitz, und obwohl ich
nun viel mehr Freude dran habe als damals,
und ich sogar tüchtig stolz darauf bin, im Grunde
geht es mir noch genau so, wie es mir als Kind
ging, der Zeitaufwand, der in dieser Stickerei
steckt, imponiert mir am meisten. Und er be-
fremdet mich und trennt mich deshalb von
einem ganz einfältigen Genießen-Können dieser
schönen Sache. Ich bin vielleicht nicht ganz
gegen Willen in unsere raschere, scbnellebige
Epoche geboren, ich liebe das Tempo unseres
XiVIII. Okt.-Nov. 1924. 11