FRITZ AUGUST BREUHAUS.
»BLICK IN DIE RAUMFLUCHT«
PERSÖNLICHE UND ALLGEMEINE MISSVERSTÄNDNISSE
IN DER KUNST.
Die Menschen lassen immer gerne ihren Ge-
schmack oder ihre Leidenschaft als
Maßstäbe für die Dinge der Welt gelten, selten
den Verstand. Was bei Kleidung und Speisen
recht sei, meinen sie, müsse für das andere auch
gelten. Wer sich die Freiheit nimmt, zu er-
klären, daß ihm spitze Nasen oder Bäuche zum
Verkehr nicht paßten, gibt damit ein Urteil ab,
das wohl albern ist, aber wozu der Mann das
unumstößliche Recht hat. Wer aber irgend eine
Verantwortung für sich oder sein Volk zu tragen
hat, wird natürlich diese Scherze lassen. In
seinem Privatleben kann jedermann so ver-
rückt sein wie es ihm Gefallen macht. Man
kann in der Tat niemand hindern, dummes Zeug
an seine Wände zu hängen oder sich an der
erbärmlichsten Lektüre zu ergötzen. Ohne
Zweifel gibt es aber Allgemeinurteile, die weit
über allen Geschmacksfragen stehen. Ich kann
natürlich als Privatperson äußern, daß der Russe
Dostojewski abscheulich sei, aber ich werde
nicht verhehlen können, daß er ein gewaltiger
Dichter sei. Ich kann mir einen Mann vorstellen,
der sich entsetzt vor den Brutalitäten des mit-
telalterlichen Malers Grünewald und der den-
noch versichert, er schätze ihn als einen be-
wunderungswürdigen Meister. Ich kann an-
dererseits hingerissen sein von einer üppigen
Figur wie dem Engländer Oskar Wilde, während
meine Vernunft mir sagt, daß dies bißchen
Decadence wahrlich nicht viel wiege. Ich ge-
stehe, daß ich gerne das Kino besuche, und
daß das Theater mich häufig als nicht zeitgemäß
langweilt, daß meine Vernunft aber dennoch
hübsch scharf genug ist, mir zu melden, daß
meine Liebhabereien für Kino noch lange keinen
Wert zu haben brauchen, während das Theater
von ewigen Dingen spricht. Wir Menschen
sind immer in den tragischsten Irrtümern mitten
drin, wenn wir uns am wohlsten fühlen. Die
Befriedigung unseres Geschmacks ist in der Tat
gewöhnlich ein Warnungssignal. Es ist ganz
deutlich, daß diese Fragen sehr schwierig wer-
den, wenn man sie genau ansieht. Wie kann es
aber geschehen, daß, ob wohlkein Streit darüber,
ob eine schöneFrau sechzehn oder siebzig Jahre
hat oder ob eine angebetete Person lebt oder
abgeschieden ist, wie kann es geschehen, daß
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»BLICK IN DIE RAUMFLUCHT«
PERSÖNLICHE UND ALLGEMEINE MISSVERSTÄNDNISSE
IN DER KUNST.
Die Menschen lassen immer gerne ihren Ge-
schmack oder ihre Leidenschaft als
Maßstäbe für die Dinge der Welt gelten, selten
den Verstand. Was bei Kleidung und Speisen
recht sei, meinen sie, müsse für das andere auch
gelten. Wer sich die Freiheit nimmt, zu er-
klären, daß ihm spitze Nasen oder Bäuche zum
Verkehr nicht paßten, gibt damit ein Urteil ab,
das wohl albern ist, aber wozu der Mann das
unumstößliche Recht hat. Wer aber irgend eine
Verantwortung für sich oder sein Volk zu tragen
hat, wird natürlich diese Scherze lassen. In
seinem Privatleben kann jedermann so ver-
rückt sein wie es ihm Gefallen macht. Man
kann in der Tat niemand hindern, dummes Zeug
an seine Wände zu hängen oder sich an der
erbärmlichsten Lektüre zu ergötzen. Ohne
Zweifel gibt es aber Allgemeinurteile, die weit
über allen Geschmacksfragen stehen. Ich kann
natürlich als Privatperson äußern, daß der Russe
Dostojewski abscheulich sei, aber ich werde
nicht verhehlen können, daß er ein gewaltiger
Dichter sei. Ich kann mir einen Mann vorstellen,
der sich entsetzt vor den Brutalitäten des mit-
telalterlichen Malers Grünewald und der den-
noch versichert, er schätze ihn als einen be-
wunderungswürdigen Meister. Ich kann an-
dererseits hingerissen sein von einer üppigen
Figur wie dem Engländer Oskar Wilde, während
meine Vernunft mir sagt, daß dies bißchen
Decadence wahrlich nicht viel wiege. Ich ge-
stehe, daß ich gerne das Kino besuche, und
daß das Theater mich häufig als nicht zeitgemäß
langweilt, daß meine Vernunft aber dennoch
hübsch scharf genug ist, mir zu melden, daß
meine Liebhabereien für Kino noch lange keinen
Wert zu haben brauchen, während das Theater
von ewigen Dingen spricht. Wir Menschen
sind immer in den tragischsten Irrtümern mitten
drin, wenn wir uns am wohlsten fühlen. Die
Befriedigung unseres Geschmacks ist in der Tat
gewöhnlich ein Warnungssignal. Es ist ganz
deutlich, daß diese Fragen sehr schwierig wer-
den, wenn man sie genau ansieht. Wie kann es
aber geschehen, daß, ob wohlkein Streit darüber,
ob eine schöneFrau sechzehn oder siebzig Jahre
hat oder ob eine angebetete Person lebt oder
abgeschieden ist, wie kann es geschehen, daß
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