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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 67.1930-1931

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Dreyfus, Albert: Der Maler Marc Chagall
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https://doi.org/10.11588/diglit.7202#0361

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DER MALER MARC CHAGALL

VON ALBERT DREYFUS

Man schaue in die vlämische Kunst, wenn
man Vorgänger für Chagalls Art finden
will. Ein Hieronymus Bosch, ein Brueghel, ein
Ensor haben sich weniger durch Lösung zeit-
wichtiger formaler Probleme ausgezeichnet, als
durch die Freiheit, mit der sie bestehende
Formen verwenden, um ihr ganz persönliches
Weltbild zur sinnfälligen Erscheinung zu bringen.
Zwangsläufig geraten sie nahe an das Illustrative,
aber die Hingabe an ihr Thema, die nur von
ihrem Blut in ihren Werken lebende Wirklich-
keit machen sie immer wieder frei von litera-
rischer Dienstbarkeit. So auch der Fall Chagall.

Eine besonders glückliche Geisteslage, das
Aufeinanderprallen, das Sichdurchdringen von
Romanischem undNordischem bedang die Inten-
sität und die Spannweite jener Niederländer;
ähnlich wirken sich bei Chagall Verschmelzung,
wechselseitiges Sichsteigern östlicher und west-
licher Elemente zu seltenem Gelingen aus.

Marc Chagall stammt aus Witebsk in Rußland.
So ummauert die Verhältnisse waren, in denen

er aufwuchs, so hemmungslos weit reichte seine
Phantasie. Alles gibt sich ihm als Wunder und
Mysterium, und er malt und komponiert folk-
lorehaft, mit volkstümlichem Humor. Von An-
fang an ist ihm Wirklichkeit eine individuelle
Angelegenheit. Wahr ist für ihn das, was er sich
durch Pinsel oder Bleistift glaubhaft machen
kann. Sich, ergo auch den anderen.

Mit seiner östlichen Phantasie und Einfühlung
kam Chagall frühzeitig nach dem Westen, zuerst
nach Berlin, gerade als die expressionistische
Welle anhub. Er schwamm auf ihr, er ging nicht
in ihr unter. Es war Chagalls erste Auseinander-
setzung mit den ideellen Potenzen des Westens.
Sie schienen sein Wesen zu bestätigen: Formen
wurden zerbrochen, ihre Teile je nach Trieb
und Laune aneinandergefügt, Komposition war
Versteckspiel. Dahinter ließ sich wohl die For-
derung: „Primat des Geistes über die Materie"
erkennen, aber man sprang doch etwas will-
kürlich mit plastischen Gesetzen um. Immerhin
haben in dieser Zeit Selbstherrlichkeit der

XXXlV/Mta 1931. 1
 
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