Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 67.1930-1931

DOI Artikel:
Dreyfus, Albert: Der Maler Marc Chagall
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7202#0362

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Maler Afarc Chagall

Phantasie, Pathos der Darstellung, Magie der
Farbe Chagall ein Meisterwerk schaffen lassen
wie sein „Golgatha", das bei Bernhard Köhler
in Berlin hängt.

Dann kam Paris. Chagall lernte die Auf-
lockerung der Farbe, den formenden Ernst auch
im Spiel. Paris weckte und erzog bei ihm Kräfte
viel ausgiebiger als Berlin.

Diese Richtungschwenkung hat in Deutsch-
land zu schiefen Urteilen über die Chagall'sche
Kunst geführt: man hielt ihn für verparisert. Es
ließ sich nicht überblicken, daß der Expressio-
nismus nur Sturm- und Drangzeit in seinem
Leben war, daß er so wenig sich auf eine Kunst-
theoric festnageln läßt wie etwa Picasso auf
seine kubistischen Tendenzen. Proteusartig
greift Chagall wie Picasso zu jedem Darstel-
lungsmittel, das ihm zum vollkommenen Aus-
druck seiner Vision verhilft.

Chagalls Vorkriegs- und Kriegsperiode zeigen
seismographartig die unerhörten Schwingungen
dieser Jahre an. Leidenschaftlich wirbeln Men-
schen und Dinge bei ihm durcheinander. Seine
Themen sind Sterben und Geborenwerden. Die
Liebe: zeit- und erdenthobene Erlösung. Das
meiste kraß, fratzenhaft, wenn auch immer
menschlich.

Der französische Himmel in der Nachkriegs-
zeit bringt die Reaktion. Dissonanzen machen
Platz reinen leiseren Tönen. Ein zartes, immer
reges Liebesgefühl wird treibendes Moment
seines Malens. Sein Pinsel macht Arabesken,
die sich unwillkürlich in fliegende Engel, in sich
umarmende Paare zu verwandeln scheinen.
Liebesimpuls formt ihm eine Wolke, ein sich
beugendes Knie, das Auge eines Pferdes, den
Schweif eines Hahns. Das Zwingende in jedem
Bild, mag es auch nur einen Blumenstrauß, eine
Schale mit Früchten darstellen, ist Chagalls
amoureuses Auge.

Grade die letzten pariser Jahre, von denen
die Blätter hier Proben geben, sind eine Periode
der vollen Entspannung. Seine Schöpfungen
sind wie Volkslieder, naiv und sentimental zu-
gleich und nie banal, weil Gefühl und Ausdruck
echt sind.

Chagall ist Romantiker, seine Werke das Ge-
gengift gegen eine Sachlichkeit, die das Unheilig-
nüchterne als Ziel und Mittel will. Seine Ro-
mantik ist in unserer der Lyrik so abholden Zeit
inselhaft, nicht veraltet. Er hütet eine Flamme,
deren Erlöschen seelisches Erfrieren in der
Welt zur Folge hätte.

Lasse man daher Chagall seine Wunderlich-
keiten und plastischen Extravaganzen, an die
wesentliche Vorzüge gebunden sind. Man be-

grüße in ihm einen der spärlichen, rein lyri-
schen Künstler unserer Zeit von Format.

Man sehe genau hin, wie er Themen des
XV11I. Jahrhunderts abwandelt, die ja an sich
unserer Zeit fern genug liegen. Chagall bedient
sich dieses Kostüms wie auch anderer, weil er
gerade so wie Ensor weiß, daß man oft seelische
Festlichkeit nicht wahrer in Erscheinung treten
lassen kann, als wenn man äußerlich maskiert
ist. Und wie schaut aus allen Reminiszenzen
der moderne Schalk!

Man darf bei Chagall weder anatomische
Richtigkeit suchen, noch seine Niederschrift
buchstabengenau nehmen. Auf einem Zirkus-
pferd balanciert eine Kugel und auf der Kugel,
schief in die Luft ragend, ein Clown. Dies equi-
libristische Unding: Spiel der Phantasie, bei
dem der Schöpfer selbst und seine Ausdrucks-
mittel indessen in Gleichgewicht sind.

Die Farbe hat Teil am Geheimnis dieses
Gleichgewichts. Mögen sich Pferdeschenkel
noch so weit ausbuchten, Häuser ins Wanken
geraten, Bäume horizontal ins Bild wachsen,
der farbige Zusammenklang macht es glaubhaft.
Die Farbe suggeriert die Vision. Auf Gouachen
schwirren die Farben in kleinen Kleksen über
das Papier, Linien scheinen sie nicht ein- und
abzuschließen, sondern selbst hemmungslos dem
Spiel und Zug der Farbtupfen zu folgen. Aber
sicherer Geschmack, Herrschaft über das Ganze,
Geschlossenheit der Vision gewährleisten eine
Ordnung in höherem Sinn.

Frankreich hat Chagall Heimatrecht gegeben.
Ein Verleger, von Flair wie Vollard, konnte
Chagall beauftragen, so rein französische Dich-
tungen wie La Fontaines Fabeln mit Pinsel zu-
erst, dann mit Radiernadel zu verdolmetschen.
Aus Chagalls Arbeiten wurden kongeniale
Schöpfungen. Er ging auf den Fabelstoff zurück,
und den hat er grade so neu geformt wie La
Fontaine. Und chagallisch sind die Tiere ver-
menschlicht, chagallisch Menschen gesehen wie
Blumen und Wolken.

Das Groteske ist auf die Spitze getriebene
Wahrheit, ein bei Chagall besonders beliebtes
Ausdrucksmittel. Es verlohnt sich, die Behand-
lung des Grotesken durch die verschiedenen
Epochen seines Schaffens zu verfolgen. Es ist
ein Fortschreiten vom volkstümlich Burlesken
zur zartesten Andeutung. Mit Andeutung, An-
hauch, Mitteltönen zu operieren bezeugt keine
Talent- oder Krafteinbuße.

Überblickt man Chagall im Ganzen, so be-
deutet Auswüchsigkeit des Temperaments und
der Phantasie — Jugend, das jetzige garten-
hafte Blühen — Reife............. a. d.
 
Annotationen