Harth, Dietrich [Hrsg.]: Die Erfindung des Gedächtnisses (Frankfurt am Main, 1991)

MARCEL PROUST
Außerhalb der Zeit - An der Schwelle
zum verlorenen Paradier'

Gerade in Bild und Widerschein aber - einmal war es ein
rosiger Reflex des Abendlichtes auf der blütenbedeckten
Mauer eines ländlichen Gasthauses, eine Empfindung von
Hunger, ein Verlangen nach Frauen, das Vergnügen am Lu-
xus, ein andermal blaue Wellengebilde des morgendlichen
Meeres, mit Melodien durchwoben, die sich, den Schultern
von Nereiden gleich, teilweise daraus erhoben - bleibt die
einfachste Geste, die einfachste Handlung wie in tausend
undurchlässige Gefäße eingeschlossen, von denen jedes
Objekte von absolut verschiedener Farbe, Duftbeschaffen-
heit und Temperatur enthält; ganz zu schweigen davon, daß
diese auf der jeweiligen Höhe unserer Jahre aufgestellten
Gefäße (Jahre, m denen wir selbst - und wäre es auch nur in
Träumen und Gedanken - uns unaufhörlich gewandelt ha-
ben) eine große Verschiedenheit des Höhestandes zeigen
und das Empfinden merkwürdiger Unterschiede unseres
geistigen Klimas während verschiedener Zeiten vermitteln.
Freilich haben wir diese Wandlungen unbewußt vollzogen;
aber zwischen der Erinnerung, die in uns wieder auftaucht,
und unserem gegenwärtigen Zustand ist ebenso wie zwi-
schen zwei Erinnerungen aus verschiedenen Jahren, Orten
oder Stunden die Entfernung derart groß, daß das allein,
ganz abgesehen von der spezifischen Eigenart jeder einzel-
nen, sie untereinander unvergleichbar machen würde. Ja>
wenn auf Grund des Vergessens die Erinnerung zwischen
sich selbst und der gegenwärtigen Minute kein Band hat
knüpfen, sie nicht hat zusammenketten können, wenn sie
*' A la rccherche du temps perdu VII (1927)