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Harth, Dietrich [Hrsg.]
Finale!: das kleine Buch vom Weltuntergang — München, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.2939#0196

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E.M. Cioran
Sind wir die letzten?

Die Einsicht, daß alles schlecht geht, hat es zu allen Zeiten gege-
ben und mit vollem Recht, denn seit jeher bereitet es den Men-
schen das größte Vergnügen, in der Kunst, sich gegenseitig
unglücklich zu machen, immer Neues zu erfinden. Wenn die
Aufmüpfigen behaupten, daß die gegenwärtige Gesellschaft
schlecht ist, daß aber die darauffolgende noch schlimmer sein
wird, sind wir irritiert, ja geradezu empört. Die Geschichte
bestätigt dennoch diese pauschale Prognose. Was tun? Buddhist
werden oder sich blenden lassen und dem Fortschritt zustim-
men? Dieses Wahnbild, das auf Condorcet zurückgeht, hat
eine ungeheure Rolle gespielt. Die Fortschrittsidee ist eine
abgeschwächte Form von Utopie, eine scheinbar sinnvolle
Spinnerei, ohne die die Ideologien des letzten Jahrhunderts
genauso wie die des unsrigen nicht möglich gewesen wären.
In der In-Frage-Stellung dieser großartigen Illusion liegt das
Eigentümliche der historischen Wende, deren Zeugen wir sind.

Die alten Kategorien „Reaktion" - „Revolution" scheinen
uns überholt zu sein. Wir können sie natürlich gelegentlich
verwenden, aber im Grunde zaubern sie das Wesentliche weg.
Warum sich Trugbildern verschreiben, sie feierlich ausrufen,
sogar ein Lehrgebäude mit ihnen aufstellen?

Niemand glaubt heutzutage wirklich an die Zukunft, ich
meine, kein sozusagen normaler Mensch. Der Optimismus ei-
nes Hegel oder eines Auguste Comte muten uns altmodisch
und unbegreiflich an. Ich nenne Hegel, weil er der Geschichte
einen außergewöhnlichen Status verliehen und von vornherein
jeden Versuch ideologischen Gigantismus gerechtfertigt hat.
Ich möchte damit sagen, daß man sich in der Folge nicht so
sehr von seinem System als solchem wie von seiner Megalo-
manie hat anregen lassen. Großes vorhaben - dafür ist er ein
hervorragendes Beispiel! Und gerade dadurch geht auch Marx
einem gewaltigen, fast unerschöpflichen Scheitern entgegen.

Wenn die Geschichte einen Sinn hat, dann nur den: alle monu-
mentalen Visionen zu entkräften, die jeweils versucht haben, sie
zu interpretieren, wiederherzustellen oder neu zu vollziehen.

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