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Nr. 59. HEIDELBERGER 1854.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.

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(Schluss.)
Referent kann Herrn Rietmann nicht beistimmen, wenn er S. 41 die
Behauptung aufstellt, dass das französische Theater sich zur blossen Un-
terhaltungsbühne „mit schönen Redensarten“ und „hohlem Pompe“ ausgebildet
habe, und S. 42 mit Bezug auf H. Heltner „das moderne Drama“ (Braun-
schweig, 1852) meint, das spanische Theater diene nur „äussern Zustän-
den“ und sei nur „des katholischen Dogmas willen“ da. Man kann keine vor-
trefflichere Schule der Literatur zum Zwecke der Menschenkenntniss durchma-
chen, als vermittelst des Studiums der Mo li ere’schen Meisterwerke, in denen
gewiss jeder Kenner noch etwas Anderes, als „schöne Redensarten“ und „hohlen
Pomp“ linden wird. Selbst bei den Tragödien Racines ist dieses Urtheil
zu stark. Auch wird man sicher in den Musterdramen eines Calderon mehr
als „äussere Zustände“ und „katholisches Dogma“ finden. Schwerlich wird da-
her der Kritiker dem Herrn Verfasser beistimmen, wenn er S. 42 das harte und
gewiss nicht hinreichend begründete Urtheil fällt, dass das französische und
spanische Theater nur der „Aeusserlichkeit“ dieser Welt, „dem Scheine und
der Lüge“ (sic!) diene. In diesem Sinne wird auch S. 60 versichert, dass das
spanische Theater „keine wahre freie Handlung mehr, sondern nur Schein-
leben und Scheinthat habe.“ In gleicher Weise ist auch das Urtheil über die
antike Welt eben so hart, als unhaltbar (S. 51), dass die antike Welt „eine
gottlose gewesen“, dass ihre Religion „ohne ethischen Charakter“ sei, und dass
die Motive, welche die griechischen Klassiker in ihren Werken anwenden, nicht
mehr als religiös, sondern nur noch als poetisch gelten können, und dass diese
religiösen Motive uns an die „pappdeckelnen Helme und Panzer mit obligaten
romantisch-frommen Redensarten“ mahnen, wie „sie auf unserer Bühne vorkom-
men, und von denen Jedermann äusser dem weisen Volke weiss, dass sie bloss
zur Staffage dienen.“ Die von dem Herrn Verf. selbst aus Sophokles an-
geführten Stellen beweisen das Gegenlheil. Nicht minder ungerecht ist Herr
Rietmann gegen unsern grossen Dichter Schiller, von dem er in allein
Ernste S. 55 versichert, dass er „das Christenthum und dessen weltversöhnende
Macht nicht gekannt oder inisskannt habe, obgleich er auch bei Shakespeare
in die Schule ging.“ Die von dem Herrn Verf. aus Hillebrand’s deutscher
Nalionalliteratur (Bd. II, S. 312) angeführten Worte können doch unmöglich,
wie Herr Rietmann will, diese Behauptung darthun. Hillebrand sagt an
der angeführten Stelle: „In der That blieb er (Schiller) bei seinem Dichten
und Streben in der dualistischen Weltauffassung befangen, so viel
Mühe er sich auch gab, sie zu überwinden. Gedanken und Gemüth, ideale Ab-
straction und reale Wirklichkeit, Himmel und Erde konnte er in seinem Leben
nicht wahrhaft versöhnen.“ Dies heisst doch wohl nicht, dass Schiller das
Christenthum und seine weltversöhnende Macht nicht gekannt habe? Wir kön-
nen ohne Anstand den Satz aufstellen, dass Schiller, der, wie der Hr. Verf
LVXII, Jahrg. 6. Doppelheft 59
 
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