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Heidelberger Volksblatt (7) — 1874

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Nr. 1 - Nr. 9 (3. Januar - 31. Januar)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44620#0031
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In der That iſt denn auch in den fünf Jahren, welche
der Unglückliche dort zubrachte, und während deren er
faſt alltäglich unter Bedeckung einen kurzen Spaziergang
im innern Hofe der Baſtille machte, er nie ohne dieſe
Maske geſehen worden. Mit ihr iſt er denn auch, als
er am 19. November 1703 ſtarb, begraben worden.
Im Uebrigen war ſeine Behandlung im Kerker eine
ausgezeichnet gute. *
Bis zum Jahre 1743 war die Exiſtenz des räthſel ⸗
haften Mannes ein nur von Wenigen gekanntes Ge-
heimniß. Erſt im letztgedachten Jahre gelangte es zur
Kenntniß größerer Kreiſe durch ein in franzöſiſcher
Sprache zu Amſterdam erſchienenes, jedenfalls von ei-
nem hochgeſtellten Manne am Hofe von Verſailles (der
ſich aber klüglicher Weiſe nicht nannte) herrührendes
Buch, welches allerhand, zum Theil recht piquante Ent-
hüllungen aus der Geſchichte des franzöſiſchen Hofes
während des letzten Viertels des ſiebzehnten und des
erſten des achtzehnten Jahrhunderts brachte. Sofort
erhob ſich über die Perſönlichkeit des „Mannes mit der
eiſernen Maske“ — an deſſen wirklicher Exiſtenz nach
den beigebrachten amtlichen Belägen übrigens nicht ge-
zweifelt werden konnte — ein lebhafter Streit, und es
tauchten verſchiedene Meinungen darüber auf. Von die-
ſen zählte in den erſten Jahren diejenige Anſicht die
meiſten Anhänger, daß der Unglückliche der Herzog von
Vermandois, ein natürlicher Sohn Lubwigs des
Vierzehnten von ſeiner Jugendgeliebten, der ſchönen la
Valliere, geweſen ſei, welcher nicht Ausgangs 1682 ge-
ſtorben, ſondern heimlich nach dem Fort St. Margue-
rite abgeführt worden ſei, um hier eine, ſeinem Halb-
bruder, dem „Großdauphin“ (Throufolger) im Streit
verabreichte Ohrfeige mit ewiger Gefangenſchaft, ge-
ſchärft durch das Tragen einer niemals abzulegenden
Maske, zu büßen. Dieſer Anſicht neigte ſich anfänglich
auch (wodurch ſie nicht wenig an Gewicht gewann) der
berühmte Tragödiendichter und Hiſtoriker Voltaire
zu. Als er ſich aber davon überführt hatte, daß ſchon
vor dem Jahre 1682 ein Mann mit einer Maske vor
dem Geſicht au' St. Marguerite gefangen gehalten wor-
den, erklärte er, jener Mann ſei ein älterer Halbbruder
Ludwigs XIV. geweſen, den deſſen Mutter, die Köni-
gin Anna, im Umgange mit einem ausländiſchen Ca-
valier, der ſich am franzöſiſchen Hofe aufgehalten, er-
zeugt habe, und den Ludwig XIV., als er von ihm
Kenntniß erhalten habe, ſür Lebenszeit einſperren und
durch die Maske noch mehr vor den Blicken Unberufe-
ner habe ſichern laſſen. Nach Anderen wieder ſollte es
ein jüngerer Halbbruder Ludwigs XIV. geweſen ſein,
herrührend aus einer heimlichen Ehe, welche die Köni-
gin Anna zur Zeit ihrer vormundſchaftlichen Regierung

über Frankreich mit ihrem erſten Miniſter, dem bekann-
Noch Andere

ten Kardinal Mazarin, eingegangen ſei.
wieder behaupteten gar, daß der Räthſelhafte ein Zwil-
lingsbruder des mehrfach genannten Königs geweſen
ſei. Ludwig XIII. habe dieſen ſeinen Sohn insgeheim
erziehen laſſen, um das Unheil zu vermeiden, welches
nach einer Provezeihung dem bourbon'ſchen Königshauſe
aus der Doppelgeburi erſtehen ſollte. Erſt als er be-

reits in das Mannesalter getreten, habe Ludwig XIV.
durch einen Zufall von dem Daſein dieſes Bruders und

dieſer wieder davon Kunde erhalten, daß er der Zwillings-
bruder des Herrſchers ſei. Da habe denn der König, in ihm

einen Thronrivalen fürchtend ihn lebens lang einſperren und

ſein Antlitz mit der angeſchmiedeten Maske bedecken
laſſen, da it Niemand aus deſſen Zügen ſeine Ver-
wandtſchaft mit ihm erkenne. ö
Dieſe Anſicht war zur Zeit der großen franzöſiſchen
Revolution, unterſtützt durch den damals im franzöſi-

ſchen Volke lodernden Haß gegen das verjagte Herr-

ſcherhaus, die gang und gäbe. Auch namhafte deutſche
Schriftſteller, wie Zſchokke (in ſeinem Trauerſpiele:
„Der Mann mit der eiſernen Maske“) und der Frei-
herr von Thümmel (in ſeinen „Reiſen in das mit-
tägliche Frankreich“), haben ſich zu derſelben bekannt;
aber mit Unrecht. Es ſteht vielmehr jetzt feſt, daß
dieſe und die übrigen bis auf die neuere Zeit über den
Unbekannten gehegten Meinungen falſch, dieſer vielmehr
höchſt wahrſcheinlich der im Jahre 1679 ſpurlos ver⸗—
ſchwundene italieniſche Graf Mattioli, der Miniſter
des Herzogs Karl Fer dinand von Mantua und Mont-
ferrat, geweſen ſei. Dieſer hatte ſich im Jahre 1677
— zu einer Zeit, wo Ludwig XIV. mit dem deutſchen
Reiche, Spanien, Oeſterreich und Savoyen im Kriege
ſtand, der gen zunte Herzog aber neutral war — gegen
den König verpflichtet, ihm gegen ein Douceur von
200,000 genueſiſchen Scudi (etwa 225,000 Thalern)
die ſtarke Feſtung Caſale in Montferrat, in welcher
Oeſterreich das Beſatzungsrecht hatte und ausübte, in
die Hände zu ſpielen. Von Geldgier bewogen, ver-
rieth er indeſſen, nachdem er bereits auf Abſchlag die
Hälfte des Judaslohnes erhalten, das Geheimniß, da-
mit den Plan des Königs vereitelnd, an Oeſterreich,
Spanien und Savoyen, wofür er ſich von jeder dieſer

Mä hte 100,000 Scudi zahlen ließ. Ueber dieſen Dop-

pelverrath nun erzürnte ſich Ludwig XIV. auf das
Aeußerſte. Um ſich zu rächen, ließ er den Grafen hin-
terliſtig auf franzöſiſches Gebiet locken und hier (am
2. Mai 1679) feſtnehmen. Mit der nicht zu lüftenden
Maske vor dem Gefichte, als einem von der Rachſucht
des Königs ihm zudiktirten Zuſatze zu der ohnehin ſchon
harten Strafe ewiger Gefangenſchaft, ſaß der Graf erſt
ein Jahr auf einer kleinen Bergveſte des ſüdöſtlichen
Frankreichs, dann durch achtzehn lange Jahre auf St.
Marguerite, und ſchließlich, bis an ſeinen Tod, in der
Baſtille. Fürwahr ein hartes, wenn auch nicht ganz
unverdientes Schickſal!

Die Buchdruckerei von G. Geisendörfer
in Heidelberg (Schiffgaſſe 4)

empflehlt sich in allen in dieses Geschltt einschlagenden
Abeiten, namentlich im Druck von Visiten-, Verlobungs- und

Adress-Karten, Rechnungen, Circularen etc. ete.
 
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