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Heidelberger Volksblatt (7) — 1874

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Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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10⁷

ſelbſt auf die Geſundheit eines erwachſenen Menſchen
zerſtörend gewirkt, die eines ohnedies ſchon kranken
Kindes mußte aus ſolchen Umſtänden ſicherlich den
Todeskeim in ſich aufnehmen. — Der Knabe wurde
mit jedem Tage hinfälliger. Die widerliche Nahrung,
die meiſt in mageren Grützſuppen, in trockenem Brode
und einmal des Tages in einem kärglichen Stück Rind-
fleiſch beſtand, vermochte er kaum noch hinabzuwürgen.
Oft mußte der Küchenjunge Caron die Näpfe und den
ſchweren Waſſerkrug unberührt zurücktragen, weil die
Kräfte des Kindes nicht ausgereicht hatten, ihn zu he-
ben. Auch der Geiſt mußte unter der Laſt ſolcher Pein
abgeſtumpft werden. — Der Knabe erhielt nicht die
mindeſte Zerſtreuung. Tag und Nacht in einem beäng-
ſtigenden Halbdunkel den entſetzlichſten Grübeleien preis-
gegeben, mit denen ſich der Knabe um das Schickſal
ſeiner Eltern und Angehörigen abquälte, oft mitten in
der Nacht aus dumpfem Halbſchlummer in roheſter
Weiſe emporgeſcheucht, befand ſich das ſchon ohnedies
etwas nervöſe Kind in einer ſteten Aufregung, welche
ſeine Nerven zerrüttete; es war auf dem beſten Wege
zu ſeinem Uutergange. ö ö
Am 9. Thermidor (27. Juli) 1794 erfolgte Robes-
pierre's Sturz. — Barras, der Commandeur der Pa⸗-
riſer Truppen und einer von den Hauptacteuren bei
der Kataſtrophe, welche zur Gefangennahme des Dic-
tators führte, begab ſich am 10. (28. Juli) nach dem
Tempel und befahl den dort anweſenden Delegirten des
Generalrathes auf der Wache in Permanenz zu bleiben
und die ſtrengſte Bewachung zu üben. Auch ließ er
den Milirärwachpoſten verdoppeln. — In dem zahl-
reichen Gefolge, welches die neuen Machthaber umga-
ben befand ſich auch der Bürger Laurent. Barras er-
ſuchte den Letzteren, ſich bei ihm zu Hauſe einzufinden
und theilte ihm dann, als Laurent der Weiſung Folge
leiſtete, mit, die neue Regierung habe es für gut er-
achtet außer den Commiſſären des Generalrathes noch
einen ſtändigen Vertreter im Tempel zu haben, der für
die Bewachung des Königkindes die Verantwortlichkeit
übernehmen müſſe. Zu dieſer Vertrauensſtellung habe
man Laurent auserſehen. — Laurent mußte ſich dem
Willen der neuen Regierungsmänner fügen und trat
am 11. Thermidor (29. Juli) Nachts ſeinen Poſten an.
Er wird als ein gebildeter und unterrichteter Mann
geſchildert, der nur etwas exaltirt republikaniſche Ge-
ſinnungen hegte und in dieſen befengen war. — Seine
Heimaih war die Inſel Sant Domingo, wo er Be⸗—
ſitzungen hatte. Nach dem Ausbruche der Revolution
hatten ihn ſeine demokratiſch⸗republikaniſchen Sympa-
thien nach Paris geführt, und er war dort ein thäti-
ges Mitglied in den revolutionären Elubs und den
Bezirkscomites.

Lanrent's exaltirter Republikanismus hatte gleich ⸗
wohl nicht das Gefühl der Menſchlichkeit in ihm er
ſtickt. Noch in der Nacht, um 2 Uhr Morgens, begaoh
er ſich vor das Gefängniß des „kleinen Capet,“ wie
man ihn im Tempel zu nennen pflegte, und ließ den
Knaben an das Schalter rufen. Es war vergeblich .
Der Knabe war bereits ſo hinfällig und kraftlos, daßßß

er nur ein ſchwaches „Ja“ den wiederholten Rufen ant-

wortete. Keine Drohung und kein Befehl vermochte

ihn dazu zu bewegen, daß er ſich an das Schalter

ſchleppte; er war hierzu außer Stande. — Laurent
mußte ſich begnügen, die Stimme des Knahen gehört
zu haben. Ihn zu erſpähen geſtattete die Dunkelheit

des Kerkers nicht. Am anderen Morgen wiederholte er

indeſſen ſeinen Beſuch in aller Frühe und erblickte nun
bef on Kinde auch das Elend, in welchem ſich daſſelbe
befand. — ͤ ö
Er fühlte ſich verpflichtet, von dieſem Zuſtande um-
ſtändlich Bericht zu erſtatten und um eine Unterſuchung
ſeitens der neuen Regierung zu bitten. Am 31. Juli
willfahrte man ſeinem Beſuche und es erſchienen einige
Mitglieder des Sicherheitsausſchuſſes zugleich mit eini-
gen Beamten der Commune, um ſich von dem Zuſtande
des Gefangenen zu überzeugen. Da das Rufen ver-
geblich blieb, ließ die Deputation die Traillen und Ei-
ſenſtangen gewaltſam beſeitigen und die Thür öffnen.
— Der Schrecken mochte ſelbſt die Glieder der Beam;
ten durchrieſeln, der die Anweſenden beim Anblick der
Jammergeſtalt überkam, welche halb erſtarrt und faſt
ohne Lebenszeichen auf faulendem Stroh lag und glä-
ſernes Auges die Fremdlinge betrachtete. Vergebens
bemühten ſich die Mitglieder der Deputation, ans dem
Knaben ein Wort herauszubringen; allen ihren Fragen
ſetzte er hartnäckig ein blödes Schweigen entgegen, ſein
Geiſt ſchien gelähmt wie ſein Körper. Endlich gelang
es einem Deputirten, durch milde Worte ihn zum ſpre-
chen zu veranlaſſen. Aber es waren nur unverſtänd;
liche, mühſam hervorgeſtoßene Laute, die der Knabe von
ſich gab und die man Anfangs nicht zu enträthſeln ver;
mochte: „Nein, ich will ſterben!“ hatte er ihnen ent-
gegengeſtöhnt und war dann in ſeine vorherige Apathie
zurückgeſunken. ö
Der erbarmungswürdige Zuſtand des Knaben hatte
ſelbſt das Mitleid der Municipaldelegirten erregt. Es
wurden einige Erleichterungen in der Haft des Kindes

geſtattet, auch durfte ein Municipalbeamter, der zugleich

Chirurg war, zu ihm gehen, in Gegenwart der Wacht-
habenden ſeine Wunden reinigen und verbinden. Lud-
wig hatte nämlich die letzten Wochen in ſeinen Kleidern
liegend verbracht, da er nicht mehr Kraft genug be-
ſaß, um ſich aus⸗ und ankleiden zu können. Das Bett
war in Monaten nicht mehr umgewendet worden.
Zahlloſes Ungeziefer und Gewürm hatte ſich in dem
Schmutze angeſammelt und zehrte an dem Körper des
Knaben. Seine Haare waren ſeit Wochen nicht gekammt

und ſein Körper nicht gewaſchen, was zur Folge hatte.
daß ſich ein bösartiger Ausſchlag einſtelllte, der ſpäter

in eiternde Wunden überging.
ö Cortſetzung folgt.)
 
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