INNEN-DEKORATI 0N
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»EINGEBAUTER BÜCHERSCHRANK IM MUSIKZIMMER. PAUSANDER POLIERT MIT MATTSILBERBESCHLAGEN
tont wird. Tragendes und Getragenes setzen sich
funktional voneinander ab, desgleichen Umrahmen-
des und Umrahmtes. Von der Art des japanischen
Möbels - z. B. des Tisches, der oft ein glatter kubi-
scher Körper auf vier Kugeln ist - ergeben sich Ver-
bindungen zu dem, was wir in den modernen Preß-
formen aus Metall, Glas, Harz und synthetischen
Werkstoffen besitzen. Aber das europäische Möbel
will seinen Aufbau zeigen, ja es will ihn als Vorgang
des Fügens, Verklammerns, Verspannens usw. fühl-
bar machen. Der Werkmann, der im Europäer, vorab
im Deutschen, steckt, kommt da zum Vorschein, aber
auch der Trieb zum klaren Begreifen. Unser Verstand,
unser Gefühl für das Lebendige wird befriedigt, wenn
ein Ding zeigt, wie es entstanden ist. Wir lieben das
Sichtbarbleiben der struktiven Gliederung, des har-
monischen Gegensatzes zwischen der Senkrechten
und der Waagrechten, wie es im Stollen- und Rah-
menbau gegeben ist. Ein Kastenmöbel braucht keine
Bogenform, um etwa zwei Seitenstollen zu über-
brücken, auch ein Türrahmen hat keinen oberen
Bogen nötig, denn es gibt da ja nichts Gewölbtes zu
tragen. Aber wir dichten das Bogenmotiv hinzu, weil
wir uns freuen am Scheine der Funktion, weil auch
der scheinbare Widerstand und seine Besiegung einen
besonderen Reiz auf uns ausübt.
Kein Zweifel freilich, daß in der Neigung zum
Funktionellen und zum Wachstümlichen eine Gefahr
steckt. Das Unwillkürliche kann zu stark vorbrechen,
es kann ordnungslos ausschweifen und die klare
Linie verdrängen, die uns als Zeichen der Vernunft
teuer sein muß. Die Spannung zwischen beiden Ele-
menten ist in der europäischen Dingform oft fühlbar
geworden, besonders als der Gegensatz zwischen klas-
sisch-südlicher und germanisch-nordischer Gestal-
tungsweise. Ganze Zeitalter haben unter diesem Ge-
gensatz gelitten, vielfach konnte er nur als ein Ent-
weder-Oder ausgetragen werden. Heute stehen in
unsrem Geistes- und Gestaltungsleben bedeutsame
Zeichen, die zum erstenmal die Hoffnung geben, daß
Europa dieses alte Entweder-Oder durch den beispiel-
losen Schwung seines neu erstarkten Lebens über-
winden, zur lebendigen Harmonie bringen wird. Denn
Formklarheit und geschöpfliche Fülle gehören glei-
chermaßen zu unsrem Erbe. In der Einheit unsres
Seins werden sie ebenfalls zur Einheit gelangen. — M.
357
»EINGEBAUTER BÜCHERSCHRANK IM MUSIKZIMMER. PAUSANDER POLIERT MIT MATTSILBERBESCHLAGEN
tont wird. Tragendes und Getragenes setzen sich
funktional voneinander ab, desgleichen Umrahmen-
des und Umrahmtes. Von der Art des japanischen
Möbels - z. B. des Tisches, der oft ein glatter kubi-
scher Körper auf vier Kugeln ist - ergeben sich Ver-
bindungen zu dem, was wir in den modernen Preß-
formen aus Metall, Glas, Harz und synthetischen
Werkstoffen besitzen. Aber das europäische Möbel
will seinen Aufbau zeigen, ja es will ihn als Vorgang
des Fügens, Verklammerns, Verspannens usw. fühl-
bar machen. Der Werkmann, der im Europäer, vorab
im Deutschen, steckt, kommt da zum Vorschein, aber
auch der Trieb zum klaren Begreifen. Unser Verstand,
unser Gefühl für das Lebendige wird befriedigt, wenn
ein Ding zeigt, wie es entstanden ist. Wir lieben das
Sichtbarbleiben der struktiven Gliederung, des har-
monischen Gegensatzes zwischen der Senkrechten
und der Waagrechten, wie es im Stollen- und Rah-
menbau gegeben ist. Ein Kastenmöbel braucht keine
Bogenform, um etwa zwei Seitenstollen zu über-
brücken, auch ein Türrahmen hat keinen oberen
Bogen nötig, denn es gibt da ja nichts Gewölbtes zu
tragen. Aber wir dichten das Bogenmotiv hinzu, weil
wir uns freuen am Scheine der Funktion, weil auch
der scheinbare Widerstand und seine Besiegung einen
besonderen Reiz auf uns ausübt.
Kein Zweifel freilich, daß in der Neigung zum
Funktionellen und zum Wachstümlichen eine Gefahr
steckt. Das Unwillkürliche kann zu stark vorbrechen,
es kann ordnungslos ausschweifen und die klare
Linie verdrängen, die uns als Zeichen der Vernunft
teuer sein muß. Die Spannung zwischen beiden Ele-
menten ist in der europäischen Dingform oft fühlbar
geworden, besonders als der Gegensatz zwischen klas-
sisch-südlicher und germanisch-nordischer Gestal-
tungsweise. Ganze Zeitalter haben unter diesem Ge-
gensatz gelitten, vielfach konnte er nur als ein Ent-
weder-Oder ausgetragen werden. Heute stehen in
unsrem Geistes- und Gestaltungsleben bedeutsame
Zeichen, die zum erstenmal die Hoffnung geben, daß
Europa dieses alte Entweder-Oder durch den beispiel-
losen Schwung seines neu erstarkten Lebens über-
winden, zur lebendigen Harmonie bringen wird. Denn
Formklarheit und geschöpfliche Fülle gehören glei-
chermaßen zu unsrem Erbe. In der Einheit unsres
Seins werden sie ebenfalls zur Einheit gelangen. — M.