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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 17.1902

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Lange, Konrad von: Was ist Kunst?
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https://doi.org/10.11588/diglit.12080#0066

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-*-S^> KONRAD LANGE: WAS IST KUNST?

gewesen, ich selbst, Leo Tolstoj, dessen
Bücher du vielleicht mit Genuss liest, bin
ein Stümper und habe in meinem Leben
höchstens zwei passable Novellen geschrieben,
natürlich die, die du gerade nicht kennst.
Die ganze Kunst muss umkehren, sie darf
nicht mehr dem Vergnügen dienen, sondern
muss ein Mittel der Erziehung werden, und
zwar der religiösen und sozialen Erziehung
in meinem Sinne, im Sinne des Asketen und
Sozialpolitikers Tolstoj".
Wie ist eine solche Verirrung möglich?
Einfach dadurch, dass Tolstoj bei seiner De-
finition nicht empirisch, sondern dogmatisch
zu Werke geht. Er spottet über die modernen
Aesthetiker, die mit den Thatsachen rechnen,
statt erst die Gesetze der Kunst und des
Schönen zu bestimmen und nachher auf Grund
dieserGesetze die Thatsachen zu beurteilen, in-
dem sie die einzelnen Werke entwederals Kunst
anerkennen, oder aus der Kunst ausschliessen.
„Anstatt erst die echte Kunst zu definieren
und dann auf Grund dieser Definition festzu-
setzen, ob das eine oder das andere Werk
unter diese Definition falle, wird einfach als
Kunst eine gewisse Reihe von Werken aner-
kannt, die einem bestimmten Kreis von
Menschen gefallen, und die Kunst wird dann
so definiert, dass sie alle diese Werke deckt."
Als Beispiel dafür nennt er einen Historiker
der modernen Kunst, der sich nicht ent-
schliessen könne, die Dummheiten der Prä-
raffaeliten, Dekadenten und Symbolisten zu
verwerfen, sondern sich eifrig bemühe, den
Begriff Kunst weiter auszudehnen, damit auch
sie darin Platz haben. „Welchen Unsinn es
auch in der Kunst geben mag, gefällt dieser
Unsinn bestimmten Kreisen der Gesellschaft,
dann wird sofort eine Theorie ausgearbeitet,
die ihn erklärt und ihm sozusagen gesetzliche
Kraft verleiht. Und doch hat es immer Zei:-
epochen gegeben, wo in gewissen Kreisen
eine falsche, hässliche, unsinnige Kunst gut-
geheissen wurde, die keine Spuren hinter-
lassen hat und von den Nachkommen voll-
kommen vergessen wurde."
Hierin liegt ohne Zweifel ein gutes Stück
Wahrheit. Der blinde Uebereifer, mit dem
unsere moderne Kritik vielfach neuen Er-
scheinungen der Kunstwelt gegenübertritt, neu
auftauchende Künstler verhimmelt und ver-
göttert, ehe sie sich bewähren, ja nur einmal
entwickeln können, hat in den letzten Jahren
schon so oft Fiasko gemacht, dass es wohl
an der Zeit wäre, die Mahnung Tolstojs
zu beherzigen. Aber Tolstoj schiesst weit
über das Ziel hinaus, indem er das, was in
einerjahrhunderte langen Entwicklung Bestand

gehabt, sich, wie wir zu sagen pflegen, als
klassisch bewährt hat, einfach auf dieselbe
Stufe stellt, wie das, was ein kleiner, meist
sehr kleiner Kreis für schön hält. Was die
Dichter des einstigen „Pan"-Kreises für Kunst
halten, braucht eine Aesthetik, die dauernde Ge-
setze formulieren will, gewiss nicht zu berück-
sichtigen. Aber was ein Goethe geschaffen
hat, kann sie nicht einfach, wie es Tolstoj thut,
beiseite schieben. Wenn der Aesthetiker de-
finieren will, was Malerei ist, wird er auf eine
Berücksichtigung der Herren Fernand Khnopff
und Carlos Schwabe füglich verzichten können,
nicht aber auf die eines Michelangelo und
Rembrandt. Man wird einwenden, dass da die
Grenze sehr schwer zu ziehen ist. Das gebe
ich gerne zu: die Grenzgebiete sind ja immer
streitig und der Aesthetiker wird deshalb gut
thun, sich möglichst von der Grenze entfernt
zu halten. Das Gebiet der Klassischen ist ja
gross und mannigfaltig genug, so dass man
bei einer solchen Beschränkung kaum irgend-
wie in Verlegenheit kommen kann.
Suchen wir nun das Wesen der Kunst auf


PAUL TROUBETZKOY. ENTWURF FÜR
EIN DANTE-DENKA\AL IN TRIENT « « «

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