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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 17.1902

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Ostini, Fritz von: Niclaus Gysis: (geboren 1. März 1842, gestorben 4. Januar 1901)
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-9-S^> NICOLAUS GYSIS <&^~

Studien. Er war ein Meister der Technik,
in vielen Dingen sogar ein Meister ohne-
gleichen, wie in gewissen Stilleben u. s. w.
Aber im Kampf mit dem Material, in den
Reflexionen des Fertigmachens ging auch ihm,
wie jedem Künstler, vom keuschen Duft der
allerersten Empfindung manches verloren!
In seinen zart und doch so sicher hingezeich-
neten, oft nur hingehauchten Studien aber
entwickelt er seine höchste Grazie und seinen
feinsten Geist. Ein Zeichner, wie es nur
wenige gab, findet und giebt er die korrekte,
die charakteristische und die vollendet schöne
Form in einem Zug. Das ist seine Art zu
stilisieren, eine Art, an der nichts Gewolltes,
nur Unmittelbares ist. Gysis'sche Aktstudien
zu sehen, ist für den Menschen von höherer
Kultur eine Quelle reinsten Genusses. Man
fühlt davor, dass sich da nicht einer ge-
quält, sondern dass einer selbst genossen hat
im Schaffen. Der zarte, bildmässige Reiz
seiner Aktstudien und Kompositionsentwürfe
ist bezaubernd; er hat nie schematisch ge-
arbeitet und besass doch in seltenem Masse
die Gabe, das Unwesentliche, Zufällige, das
individuell Mangelhafte seines Modells zu
übersehen. Diese Gabe erwuchs ihm aus
einem eminent verständnisvollen Studium der
Antike, die er vollkommen persönlich ansah
und erkannte — wie gesagt, nicht weil er als
Staatsangehöriger des Königreichs Griechen-


NICOI.AUS GYSIS EIN ORIENTALE

land am 1. März 1842 auf der Insel Tinos
(Cycladen) geboren, sondern, weil er in tiefster
Seele ein Hellene war, wie die Hellenen
Goethe, Hölderlin, wie die Hellenen Beethoven
und Böcklin. Seine Erscheinung ist voll-
kommen original, er kam zu ganz anderen
Zielen, als irgend ein anderer, der wie er
von der Antike ausging. Oder vielleicht ging
er gar nicht von der Antike aus? Vielleicht
ist er eher auf die Antike ausgegangen, ge-
leitet von der Erkenntnis, dass ihre Meister
eben auch warmherzige und individuelle
Menschen gewesen sind, die lebendige Kunst
und nicht klassisch - massgebende Formeln
schaffen wollten. Er hat sich die Antike er-
obert, sie erreicht auf dem Wege über die
Natur, mit der Seele hat er das Land der
Griechen gefunden. Ererbtes Hellenentum
giebt es ja heute nicht mehr!
Eingangs wurde auf den Reichtum und die
Vielseitigkeit von Gysis' Kunst hingewiesen
und sie sind in der That bewundernswert;
er trieb grosse Monumentalkunst und kleine
Genremalerei ernsten und heiteren Charakters,
er malte Bildnisse, Stilleben mit einer Virtuo-
sität ersten Ranges, er war Plastiker — ganz
besonders allerdings, wenn er malte! — ein
Meister sinnvoller und wirkungsreicher Zier-
kunst, Schöpfer von Diplomen und Plakaten
von erlesenem Geschmacke. Heute ein Lyriker
der Palette, wie in seiner Frühlingssymphonie
von 1888, ging er in der Zartheit seiner dich-
terischen Empfindung bis an die Grenze des
Malbaren und Malerischen — morgen war
ihm die Mühe nicht zu viel, ein gerupftes
Huhn, ein paar Zwiebeln oder Aepfeln bis
zu greifbarer Naturtreue in einer technischen
Vollendung auf die Tafel zu bringen, vor
welcher die Berufskollegen wie vor einem
Rätsel standen; heute malte er resolut mit
allen Mitteln realistischer Darstellungskunst
ein Stück Leben oder Leiden auf die Lein-
wand, morgen eine Allegorie oder einen phan-
tastischen Märchentraum so duftig und körper-
los, als hätte er den Pinsel in Mondstrahlen
getaucht. Er war als Könner stark genug,
um die Ausdrucksmittel mit dem Zweck
wechseln zu können und, wenn er dies that,
so war's nicht Inkonsequenz, sondern Reich-
tum. Wenn er mit diesem Reichtum, mit
dieser Gabe zu gefallen, ein vielbegehrter
Modemaler hätte werden und unter dem Druck
der Reklame hätte Hunderttausende verdienen
wollen, er hätte dies leicht gekonnt. Aber
das Ausschlachten von Specialitäten war gegen
seine Natur und wer seine Werke in der
Entwicklung von der Kompositionsskizze über
die Studien zum Bilde verfolgt, begreift, dass

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