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Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins zu München — 1886

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Heft 5/6
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Fünf Fragen und Antworten über Proportionen und über den goldenen Schnitt
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https://doi.org/10.11588/diglit.6901#0049

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Zwei sich widersprechende Dinge zu vergleichen." Darum
Silt ein Witz für um so besser, je entlegener die Vor-
stellungen sind, welche darin zusammengesaßt werden.
Freilich ist nun die Verschiedenheit und Einheit, welche
Zwischen den Gliedern einer Proportion besteht, von ganz
anderer Art als die Verschiedenheit und Einheit der
2estandtheile eines Witzes, und demgemäß ist auch das
Wohlgefallen an einer schönen Proportion ein ganz anderes
als das Wohlgefallen an einen: guten Witze; aber dort
wie hier ist es die Einheit und Zusammenfassung des
verschiedenen, was Wohlgefallen erweckt. Bei der Pro-
portion muß jedoch das Verschiedene, das zusanimengefaßt
wird, von gleicher Art sein und eine meßbare Größe haben,
wogegen im Witz Dinge, resp. Vorstellungen, die himmelweit
auseinander liegen, zusammengefaßt werden können.

Zweite Frage. Gibt es unter den Proportionen
welche, die vor anderen einen Vorzug haben, und wenn
la, worauf gründet sich dieser Vorzug?

Die soeben gestellte Frage ist dahin zu beantworten,
daß in ästhetischer Einsicht die stetigen Proportionen einen
Vorzug haben vor den diskreten. Um uns den Vorzug
der stetigen Proportionen vor den nichtstetigen klar zu
wachen, wollen wir zuerst solche Erscheinungen und Sinnes-
eindrücke in Betracht ziehen, bei welchen der Unterschied
des Stetigen und Diskreten und der Vorzug des Elfteren
stärker als bei Proportionen sich geltend macht und
empfunden wird. Es sind vorzugsweise drei Sinne:
Gefühl, Gehör und Gesicht, welche in ihren Empfindungen
das Stetige und Nichtstetige unterscheiden und verschieden
davon afficirt werden. Es gibt Bewegungen, bei welchen
im Gefühlssinne der Unterschied des Stetigen und des
Unterbrochenen stark sich geltend macht. Solche Be-
wegungen sind namentlich das Fahren auf Schlitten und
auf Schlittschuhen. Das sanfte, durch kein Hinderniß und
deinen Stoß unterbrochene Dahingleiten sowohl auf
Schlitten als Schlittschuhen ist bekanntlich ein Genuß,
wogegen das Fahren auf holperiger Bahn durch Stöße
und Unterbrechungen sehr unangenehm werden kann. Zn
etwas feinerer Weise — aber immer noch sehr merkbar —
wacht sich der Vorzug des Stetigen vor dem Unter-
brochenen geltend beim Anhören eines Vortrages, da
bekanntlich ein fließender Vortrag viel angenehmer als
ein stockender oder gar stotternder sich anhört. Zn der
Musik ist der ganz verschiedene Eindruck, welchen die
eonsonanten Accorde einerseits und starke Dissonanzen
andererseits machen, eine bekannte Thatsache. Diese Ver-
schiedenheit beruht aber wieder auf dem Gegensatz des
Stetigen und Unterbrochenen, denn die Dissonanzen ent-
gehen durch die sogenannten Stöße, diese aber erzeugen,
wie Tyndall sich ausdrückt, „jene abgerissene Znterinittenz,
welche dem Ohre als Dissonanz sich fühlbar macht". Die
Konsonanzen sind frei von solchen Zntermittenzen. Es ist
also auch für den Gehörsinn das Stetige angenehmer als
^as Nichtstetige. Bezüglich der Eindrücke des Gesichts-
sinnes ist es eine bekannte Erfahrung, daß es den: Auge
unangenehm ist, wenn Lichteindrücke stattfinden, in welchen
^w rascher Wechsel von Helligkeit und Dunkel oder von
StärFe und Schwäche dem Auge sich bemerkbar macht,
wie das z.B. der Fall ist, wenn man bei sehr unruhigem
gackernden Lichte arbeitet.

>if« des

Alle die angeführten Thatsachen bezeugen diese eine
Wahrheit, daß in den Empfindungen dreier Sinne: des
Gefühles, Gehöres und Gesichts, eine starke Unstetigkeit
unangenehm wird, und das Stetige wohlgefälliger als das
Unstetige ist.*) Ulan kann diese Wahrheit sogar auch auf
den Eharakter des Menschen anwenden, denn ein unsteter
Charakter inißfällt.

Wir müssen jedoch jetzt, um den Vorzug der stetigen
Proportionen zu erklären, auf das Wesen der Stetigkeit
im Allgemeinen einen Blick werfen.

Der Begriff der Stetigkeit und des Stetigen, im
ganzen Umfang genommen, umfaßt sehr Vieles. Ueberall,
wo unterschiedene Dinge innerlich verbunden sind, oder so
aufeinander folgen, daß wenigstens eine Trennung nicht
wahrnehmbar ist, ist Stetigkeit entweder wirklich oder doch
für die unmittelbare Wahrnehmung vorhanden. Zm
mathematischen Gebiets werden insbesondere räumliche
Größen, z. B. Linien, stetig genannt, weil bei solchen die
Theile nicht getrennt sind, sondern so zusanrmenhängen,
daß der Endpunkt eines Theiles stets der Anfangspunkt
des angrenzenden Theiles ist. Von dieser Eigenschaft
räumlicher Größen wird der Ausdruck stetig auch über-
getragen auf jene Proportionen von Zahlgrößen, in
welchen das Endglied des ersten Verhältnisses zugleich
Ansangsglied des zweiten Verhältnisses ist. Es ist nämlich
die allgemeine Formel einer stetigen Proportion diese:
Die Größe A verhält sich zu B, wie B zu C sich verhält.
Zn einer solchen Proportion ist, wie inan sieht, zwischen
den zwei Verhältnissen, aus denen sie besteht, ein ganz
enger Zusammenhang hergestellt dadurch, daß die mittlere
Größe beiden Verhältnissen angehört. Wie natürlich dem
Menschen eine derartige Verbindungsweise ist, zeigt sich oft
in der Satzfolge; denn wenn der Mensch mehrere auf-
einander folgende Sätze recht eng verknüpfen will, so ver-
fährt er unwillkürlich so, daß er das letzte Wort des
vorausgehenden Satzes zun: ersten Wort des nachfolgenden
macht. Schon die ersten Sätze im ersten Aapitel des
alten Testaments sind ein Beleg dafür, denn die ersten
zwei Sätze sind: „Zm Anfang schuf Gott Himmel und
Erde. Die Erde aber war wüst und leer." Noch stärker
tritt diese Verkettung oder Stetigkeit der Satzfolge hervor
im ersten Aapitel des Evangeliums nach Matthäus und
nach Zohannes. Daß nun diese besondere Art von Stetig-
keit auch einen ästhetischen Werth und Effekt habe, zeigt
sich am deutlichsten in gewissen Gedichtformen. Einer der
besten lyrischen Dichter der Gegenwart, Gerock, hat in
seinen „palmblättern" diese Art der stetigen Verkettung
auf das effektvollste verwerthet, inden: er in nicht weniger
als s6 Gedichten, welche zu den schönsten der ganzen
Sammlung gehören, die aufeinander folgenden Strophen
so verbunden hat, daß die letzten Worte der vorausgehen-
den Strophe innner die Anfangsworte der nachfolgenden
sind, fjätte diese Art der stetigen Verbindung der Strophen
nicht einen ästhetischen Werth, so hätte der Dichter dieselbe
gewiß nicht in so vielen Gedichten angewendet.

Ganz analog nun mit der soeben nachgewiesenen Art
der Verbindung von Sätzen und Strophen in: Gebiete der
Sprache und der Poesie ist im Reiche der Mathematik

*) Lantor, Geschichte der Mathematik S. sagt: „Das
ästhetisch wirksamste Verhältnis ist das stetige."

Uunstgowerbe-vereins München.

t 686. tzeft 5 & 6 (Bg. 2).
 
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