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Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins zu München — 1886

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Heft 5/6
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Fünf Fragen und Antworten über Proportionen und über den goldenen Schnitt
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https://doi.org/10.11588/diglit.6901#0050

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und der Größen die Verknüpfung der Glieder in einer
stetigen Proportion, denn auch hier wird das, was zun:
Vorausgehenden als Endglied sich verhält, Anfangsglied
des Nachfolgenden.

Vergleicht man die stetige Proportion — mag sie
arithmetisch oder geometrisch sein — mit der diskreten,
so findet man, daß die erstere eine einfachere und zugleich
vollständigere Bestimnitheit hat, als letztere. Einfacher ist
die Bestimmtheit der stetigen Proportion, weil sie im Ganzen
nur aus drei verschiedenen Größen besteht und schon durch
zwei Glieder und deren Verhältniß das fehlende bestimmt
ist, wogegen bei einer diskreten Proportion ein noch un-
bekanntes Glied erst durch drei bekannte bestimmt ist.
Vollständiger aber ist die Bestimmtheit der stetigen Pro-
portion insofern, als durch das Verhältniß von zwei
Gliedern nicht blos das andere Verhältniß, sondern auch
die absolute Größe des noch fehlenden Gliedes bestimmt ist.
Bei einer diskreten Proportion aber wissen wir, wenn ein
Verhältniß von zwei Gliedern gegeben ist, zwar, welches
Verhältniß die zwei anderen Glieder haben müssen, aber
die absolute Größe der zwei anderen Glieder ist durch die
Größe der zwei bekannten noch in gar keiner Weise be-
stimmt. Nun aber ist bei schönen Objekten der Natur
und Aunst, wenn einmal die absolute Größe und die
Proportion von ein paar Gliedern oder Theilen gegeben
und bekannt ist, auch die absolute Größe der übrigen
Theile wenigstens annähernd bestimmt. Es steht also auch
in dieser Einsicht die stetige Proportion zu den Objekten
der Aunst und Natur in einer näheren Beziehung, als
die diskrete Proportion.

Dritte Frage, pat unter den stetigen Proportionen
irgend eine einen besonderen Vorzug, und wenn ja, welche
Proportion ist dies?

Diese Frage ist ausführlich beantwortet in dem von
dem Verfasser dieses Artikels herausgegebenen Buche: Der
goldene Schnitt in Mathematik, Natur und Aunst,
von Dr. Pfeifer. Verlag von Dr. puttler. Es ist in jenem
Buche an vielen Beispielen aus Natur und Aunst der
Beweis geführt, daß die stetige Proportion des goldenen
Schnittes in schönen Objekten der Natur und Aunst eine
bevorzugte Rolle spielt.*)

Vierte Frage. Welchen Nutzen kann ein Aünstler
oder Aunsthandwerker ziehen aus der Aenntniß oder dem
Studium des goldenen Schnittes und seiner Erscheinungs-
formen in Natur und Aunst?

Antwort. Es wird zwar ein Aünstler oder Aunst-
handwerker die Aenntniß, die er vom goldenen Schnitts hat,
nicht leicht dazu verwenden können, um unter Leitung
dieser Aenntniß die Aomposition zu einen: Aunstwerke zu
entwerfen, aber dennoch kann jene Aenntniß und das
Studium der Erscheinungsform des goldenen Schnittes in
Natur und Aunst in anderer Weise einen günstigen Ein-
fluß auf den Aünstler und Aunsthandwerker üben, nämlich
als Uebungsmittel des ästhetischen Sinnes und als Prü-
fungsmittel von Aunstwerken und Entwürfen. Es ist
bekannt, daß jede menschliche Anlage durch Uebung ver-
vollkommnet werden kann. Dies gilt auch von der ästhe-

*) Der goldene Schnitt ist eine stetige geometrische Proportion,
welche das Eigene hat, daß das dritte Glied die Summe der beiden
ersten ist, nach der Formel a : b — b : (achb).

tischen Anlage des Menschen, und insbesondere bezüglich
des Sinnes, den der Mensch von Natur aus für Pro-
portionen hat. Durch das Studium der Proportionen
überhaupt und der Erscheinungsformen des goldenen
Schnittes insbesondere kann dieser Sinn geschärft utid ver-
vollkommnet werden. Dies ist der erste Nutzen.

Dazu kommt noch ein zweiter. Es ist nachgewiesen,
theils schon von Zeising, theils von mir in dem erwähnten
Buche, daß man bei Produkten der Aunst und des Aunst-
handwerkes um so sicherer auf das Vorkommen des gol-
denen Schnittes rechnen kann, je schöner oder vollkommener
das Werk ist. pieraus folgt, daß man jene Proportion
gewissermaßen als prüfungsntittel bei Untersuchung eines
Aunstproduktes oder eines Entwurfes anwenden kann,
denn gänzliches Fehlen dieser Proportion wäre jedenfalls
eher ein ungünstiges als günstiges Zeichen, vorausgesetzt,
daß das Gbjekt überhaupt von der Art ist, daß es jene
Proportion zuläßt, denn es wäre allerdings möglich —
besonders bei Erzeugnissen des Aunsthandwerkes — daß
ein Objekt wegen seines speziellen Zweckes jene Proportion
nicht zuließe.

Außer dem soeben hervorgehobenen praktischen Nutzen
hat das Studium der Proportion und insbesondere des
goldenen Schnittes noch den theoretischen Nutzen, daß man
das, was man vielfach blos instinktmäßig befolgt und
thut, rationell begreifen und verstehen lernt.

Fünfte und letzte Frage. Wie kann man am
leichtesten durch Messungen herausfinden, ob an einem
Objekt die Proportion des goldenen Schnittes oder eine
Annäherung an diese Proportion vorhanden sei, und wenn
man etwa die Proportion Herstellen will, welches sind die
einfachsten Mittel dazu?

Antwort. Der Verfasser des oben erwähnten Buches
hat die Firma Riefler in München und Maria-Rain bei
Aempten mit der Herstellung eines Doppelzirkels bekannt
gemacht, der so eingerichtet ist, daß die beiden Oeffnungen
stets die Proportion des goldenen Schnittes bilden. Ein
solcher Zirkel, der bei einer Länge von circa 20 Lentimeter
aus Metall 6 Mark kostet, ist das bequemste Mittel sowohl
zur Ausführung von Messungen als Aonstruktionen, wo
es sich um den goldenen Schnitt handelt, wenn die Dimen-
sionen die Weite der Zirkelöffnungen nicht überschreiten.

Wenn jedoch kein solcher Zirkel zur Disposition ist,
oder die Größen, niit denen man zu thun hat, zu be-
deutend sind, dann bleibt nichts anderes übrig, als, wenn
es sich um Messungen handelt, die betreffenden Dimen-
sionen zuerst niit einem gewöhnlichen Metermaßstab, der
noch in Millimeter getheilt ist, zu messen und dann das
Verhältniß der gefundenen Größen zuin goldenen Schnitt
zu bestimmen. Es kann jedoch in solchem Falle die letztere
Arbeit, nämlich die Bestimmung des Verhältnisses der ge-
fundenen Größen zuin goldenen Schnitt erleichtert werden
durch die beigegebenen Tabellen, deren Einrichtung hier
erklärt wird.

Die Tabelle Nr. I hat diese Einrichtung: Zn den
Spalten, die oben mit M bezeichnet sind, folgen die ganzen
Zahlen von \ bis j00 auseinander. Aus jede mit M be-
zeichnete Spalte folgt eine, die oben mit m bezeichnet ist,
und die Zahlen, welche hier stehen, sind theils Dezimalen,
theils ganze Zahlen mit einer folgenden Dezimalstelle. Zede
 
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