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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 21.1910

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Pauli, Gustav: Die Wachsbüste der Flora im Kaiser-Friedrich-Museum
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https://doi.org/10.11588/diglit.5952#0084

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Die Wachsbüste der Flora im Kaiser-Friedrich-Museum

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liefert, die darum die ernsteste Beachtung verdienen,
weil sie dem behaupteten Schöpfer der Büste persön-
lich nahe standen. Der eine war sein Sohn, der
andere ein intimer Freund seines Hauses. Der erstere,
der heute 81 jährige Albrecht Dürer Lucas, erklärt bei
der Arbeit mit geholfen zu haben, entsinnt sich ge-
nau verschiedener Nebenumstände bei der Be-
stellung und bestreitet ausdrücklich, daß sich nicht
etwa eine zweite Florabüste im Atelier seines Vaters
befunden habe. Dieses bestätigt der zweite Zeuge,
Herr Thomas Whitburn, der des öfteren den alten
Lucas bei der Arbeit und das Gemälde neben der
Büste gesehen hat. Die in englischen Zeitungen ver-
öffentlichten Aussagen der beiden alten Herren sind
zwar von den Verfechtern der Autorschaft Leonardos
merkwürdig leicht genommen, ignoriert oder kurz-
weg bestritten worden — indessen in keinem einzigen
Punkte widerlegt Die Zeugen sind nicht als lügne-
risch oder vertrauensunwürdig erwiesen, vielmehr haben
sich verschiedene Umstände vereinigt, um ihre Glaub-
würdigkeit zu bekräftigen. — Was man zuvor nicht
gewußt hatte, das Vorhandensein eines in der Kompo-
sition genau mit der Büste übereinstimmenden Ge-
mäldes, erwies sich als richtig. Das Gemälde gehört
heute der Familie Morrison in Basildon Park, war
tatsächlich 1846 das Eigentum des Kunsthändlers
Buchanan, der es im selben Jahre noch verkaufte,
und hängt augenblicklich als Leihgabe in der Grafton
Gallery zu London. Man hat nun entgegen den eben
berichteten Zeugenaussagen die Hypothese aufgestellt,
daß nicht die Büste nach dem Gemälde, sondern um-
gekehrt das Gemälde als Kopie nach der Büste ge-
schaffen sei. Wir wollen uns bei der Untersuchung
dieser Frage nicht mit Qualitätserörterungen aufhalten,
die unabsehbar werden könnten, weil auch das Ge-
mälde kein Meisterwerk ist, sondern wir wollen nur
fragen: gibt es formale, in den Kunstwerken selber
liegende Gründe, die für die Priorität des Gemäldes
oder der Büste sprechen? Allerdings glaube ich wenig-
stens einen solchen Grund aufzeigen zu können. Die
Flora trägt, aus einzelnen Blumen locker gewoben,
einen Kranz im Haar. Dieser Kranz ist durchaus
malerisch konzipiert, aber nicht plastisch. Auf dem
Gemälde hat es einen formalen Sinn, wenn die Grenze
zwischen dem dunklen Haupthaar und dem dunklen
Hintergrunde durch vereinzelte helle Blüten bezeichnet
wird. Dagegen kommt denselben Blüten an der Büste
keineswegs eine analoge plastische Funktion zu. Sie
sind undeutlich, rein formal betrachtet sinnlos und
außerdem wie kümmerlich modelliert! Soll dieses
grüne Schläuchlein ein Rosenzweig sein, ein von
Leonardo modellierter Rosenzweig?? — Wenn ein
großer Künstler ein plastisches Frauenbild durch einen
Kranz als Flora charakterisieren wollte, so hätte er
nicht diesen Kranz gebildet. —

Ein weiterer Umstand kommt hinzu, die Glaub-
würdigkeit der englischen Zeugen zu bekräftigen. Am
1. November erschien in den Times ein Artikel des
Herrn Cooksey, der eine Äußerung des Herrn A. D.
Lucas mitteilte, wonach sein Vater die Gewohnheit
gehabt haben sollte, seinen größeren Wachsgüssen,

um an Material zu sparen, ein Kerngehäuse aus fremd-
artigen Stoffen (Gips, Zeug) einzuverleiben. Die Ber-
liner Autoritäten behaupteten demgegenüber einen
reinen Wachsguß (Vollguß?) ohne fremde Bestand-
teile, vermutlich nach Analogie des Liller Wachs-
kopfes. Eine wiederholte Röntgenuntersuchung schien
dem nicht zu widersprechen. Als man aber schließ-
lich zur Öffnung der Büste schritt, fand man in
der Tat in ihrem Innern, genau wie es der jüngere
Lucas vorausgesagt hatte, ein ziemlich umfangreiches
Gebilde aus Gips und anderen Materialen, das mit
einem ansehnlichen Quantum Zeugstoff angefüllt war!
Dieser Stoff (der bei der chemischen Untersuchung
durch den Experten der Berliner Museen nur als
ein Gemenge von Baumwollfasern und Flachsfasern
bestimmt wurde) ist später von den Sachverständigen
des Victoria- und Albertmuseums als vermutlich zu
einer kattunenen Bettdecke der frühen Viktorianischen
Zeit gehörig erklärt werden.

Soll man noch mehr sagen? Was an dem Bericht
der englischen Zeugen auffallend erscheinen könnte
— der Auftrag, eine plastische Arbeit nach einem
Gemälde auszuführen — verliert alles Befremdliche,
wenn man erfährt, daß Lucas häufig ähnliche Arbeiten
gemacht habe, daß er in der Imitation verschieden-
artiger alter Stile geübt gewesen sei. Ja, wenn man
hört, wie er sich in seiner Autobiographie rühmt,
»both the form and actual texture of the decay of
two thousand years« nachgeahmt zu haben, so möchte
man glauben, daß seine Tätigkeit sich manchmal von
der eines berufsmäßigen Fälschers alter Kunst nicht
sehr unterschieden habe. —

Die zweite Version der Entstehungsgeschichte der
Berliner Büste läßt sich weniger einfach erzählen, was
mit dem Umstand zusammenhängt, daß sie nicht auf
Zeugenaussagen, sondern auf wechselnden Hypothesen
beruht.

Indem man den (noch erst zu erweisenden) hohen
künstlerischen Wert der Arbeit als selbstverständlich
und erwiesen voraussetzt, wird es kurz und gut be-
stritten, daß ein so schwacher Künstler wie Lucas
die Büste geschaffen habe. Vielmehr kann sie nur
von Leonardo selber oder von einem ihm nahestehen-
den Künstler stammen. (Erste Hypothese.) Die bün-
digen Zeugenaussagen der Engländer und das mit
der Büste übereinstimmende Gemälde kommen dem
Gewicht dieser Hypothese gegenüber nicht in Be-
tracht (!). Die 1860 von Lucas aufgenommene Photo-
graphie stellt eine recht schwache Kopie nach dem
in Berlin befindlichen kostbaren Original dar. (Zweite
Hypothese.) Nachdem die amtliche Untersuchung der
Berliner Sachverständigen die Identität dieser schwachen
Kopie mit dem köstlichen Original erwiesen hatte,
wurde eine neue (dritte) Hypothese aufgestellt. Die
von Leonardo oder einem seiner Schüler geschaffene
Büste, die wahrscheinlich (?!) dem Lord Palmerston
gehörte, wurde von diesem (1846?) dem Bildhauer
Lucas zur Restaurierung übergeben. Dieser arbeitete
unter Assistenz seines Sohnes daran, schob ein neues
Kerngehäuse zur Stütze in ihr Inneres und fertigte
14 jähre später (1860) eine Photographie nach dieser
 
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