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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 21.1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.5952#0146

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275

Literatur

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Seidlitz auf dem auch meines Erachtens berechtigten Stand-
punkt, daß uns kein einziges plastisches Bildwerk von der
eigenen Hand Leonardos erhalten ist. Seine künstlerische
Entwickelungsgeschichte spiegelt sich daher, abgesehen
von seinen ziemlich zahlreichen Handzeichnungen, die
Seidlitz natürlich an der richtigen Stelle einordnet, einer
eingehenden Prüfung und Würdigung unterwirft, und in
ausgiebiger Weise zur Veranschaulichung seiner Stilwand-
lungen heranzieht, vornehmlich in seinen erhaltenen Ge-
mälden wieder. Wollte er als Künstler seine Kräfte doch
auch am liebsten dem Dienste der Malerei weihen, die er
in dem damals üblichen Streite über die Vorzüge der
beiden Künste hoch über die Bildhauerei stellte. Die
Haupterörterungen Seidlitz' drehen sich daher auch um die
Echtheit und um die Entstehungsgeschichte der Gemälde,
die auf Leonardo zurückgeführt werden. Die Zahl der Ge-
mälde, die Seidlitz, fast völlig in Übereinstimmung mit der
gegenwärtig maßgebenden internationalen Leonardo-For-
schung für echte eigenhändigeGemälde des Meisters hält, ist
aber außerordentlich gering; und auch von ihnen sind einige
der wichtigsten nur in unvollendetem, andere nur in ver-
dorbenem Zustand erhalten. Sie sind leicht aufzuzählen.
In Betracht kommen nach Seidlitz nur noch: 1. Leonardos
Anteil an der Taufe Christi Verrocchios in der Akademie
zu Florenz; 2. die kleine Verkündigung des Louvre; 3. die
Anbetung der Könige (unvollendet) in der Uffizien; 4. der
kniende heilige Hieronymus (unvollendet) in der vatika-
nischen Galerie; 5. die Madonna in der Felsengrotte des
Louvre; 6. das Abendmahl in S. Maria delle Grazie zu
Mailand; 7. die Fürstenbildnisse in der diesem Bilde gegen-
über dargestellten Kreuzigung Montorfanos; 8. die Mona Lisa
des Louvre; 9. die heilige Anna selbdritt des Louvre, der
sich als andere Komposition desselben Gegenstandes der
Karton im Burlington House zu London anschließt; lO.Jo-
hannes der Täufer des Louvre; 11. die Dekoration derSala
delle Asse im Kastell zu Mailand Im einzelnen wäre hierzu
folgendes zu bemerken. Auf Verrocchios Taufe Christi
schreibt auch Seidlitz mit Recht nicht nur den vorderen der
beiden Engel, sondern auch andere Teile des Bildes,
namentlich der Landschaft, Leonardo zu. Wenn er Leo-
nardos Beteiligung an diesem Bilde aber wegen des flüch-
tigen Profilkopfes eines Jünglings auf der Federzeichnung
von 1478 in den Uffizien bis in dieses Jahr herabrücken zu
müssen meint, so scheint mir diese Begründung gewagt,
da dieser Kopf, der ein anderes Profil mit viel schärfer vor-
springender Nase zeigt, keinesweg überzeugend als Studie
zu dem Kopfe jenes Engels wirkt. Von der Madonna
in der Felsengrotte gibt es bekanntlich zwei Exemplare,
eines im Louvre, eines in der Londoner National Gallery.
Daß das Louvre-Exemplar das Original ist, davon bin auch
ich nach allen neuen Erörterungen, die darüber statt-
gefunden haben, jetzt überzeugt. Wenn Seidlitz aber
nach wie vor die Auffassung verteidigt, daß Leonardo an
der Wiederholung in London gar keinen Anteil gehabt
habe, diese vielmehr, einschließlich der veränderten Haltung
des knienden Engels, durchweg von Ambrogio Preda her-
rühre, so halte ich es mit anderen doch nach wie vor für
wahrscheinlich, daß Leonardo selbst bei dieser Veränderung
seine Hand im Spiele gehabt habe, wenn auch die Aus-
führung ganz von Preda herrühren mag. Es ist ja doch
erwiesen, daß diese Wiederholung mit Leonardos Einwil-
ligung für dieselbe Kapelle, aus der das erste Exemplar
entfernt worden war, gemalt wurde. In bezug auf den im
Abendmahl dargestellten Augenblick hält Seidlitz es, Strzy-
gowski folgend, für möglich, daß nicht nur des Heilands
Worte, »wahrlich, einer unter euch wird mich verraten«,
sondern, darüber hinausgehend, der Hinweis des Heilands
auf die Hand, die mit ihm in die Schüssel tauche, gemeint

sei. Die Bewegung aller Dargestellten erklärt sich aber
doch wohl besser ohne diese Spezialisierung. In bezug auf
die Dekoration der Sala delle Asse hebt Seidlitz mit Recht
hervor, daß jede Spur von Leonardos eigener Pinselführung
— wenn die Ausführung nicht überhaupt einer Schülerhand
überlassen gewesen — in den neuerlichen Herstellungs-
arbeiten durch einen modernen Maler untergegangen sei.

In bezug auf die heilige Anna selbdritt des Louvre,
von der Seidlitz annimmt, daß sie nach dem verlorenen,
in Florenz entstandenen Karton erst zwischen 1507 und
1513 in Mailand ausgeführt worden, gibt er zwar zu, daß
Schülerhände an ihr geholfen haben, meint aber, daß in
der Herabsetzung des Gemäldes, das der Meister in Cloux
selbst als sein Werk vorzuführen pflegte, jetzt offen-
bar viel zu weit gegangen werde; und dieselbe Stellung
nimmt der Verfasser gegenüber dem jugendlichen Johannes
des Louvre ein. Anderer Meinung als Seidlitz könnte man
vielleicht nur in bezug auf die Fürstenbildnisse in Montor-
fanos »Kreuzigung« sein, deren Erhallung allerdings nicht
gut genug ist, uns einen sicheren Schuß zu erlauben.

Von den Bildern, die immer noch von einigen, aber
doch auch nur von einigen Kennern als Original-
schöpfungen Leonardos angesehen, von Seidlitz aber
mit Recht anderen Meistern gegeben werden, schreibt
er dem Ambrogio Preda, den er an anderer Stelle über-
haupt zuerst ins richtige Licht gerückt hat, das Londoner
Exemplar der Madonna in der Felsengrotte, die Madonna
Litta in St. Petersburg, das schöne weibliche Profilbildnis
der Ambrosiana und die Auferstehung in Berlin zu, wogegen
er neuerdings geneigt scheint, die Belle Ferroniere des Louvre,
die er früher ebenfalls Preda gab, mit einigen anderen
Kennern auf Boltraffio zurückzuführen. Die Freskomadonna
in S. Onofrio zu Rom wird Cesare da Sesto zuerteilt. Einem
besonderen, unbekannten Meister werden die Verkündigung
der Uffizien und das schöne weibliche Bildnis der Galerie
Liechtenstein gegeben. Die frühe Madonna der Münchener
Pinakothek aber ist Seidlitz geneigt, als Jugendwerk Credis
gelten zu lassen.

Daß von allen diesen Bildern, die Seidlitz dem großen
Meister aus inneren Gründen abspricht, in der Tat keines
von ihm gemalt worden ist, wird wohl bald allgemein an-
erkannt werden; und es wäre ein Gewinn für die Kunst-
geschichte, wenn es dabei bliebe. In bezug auf die neuer-
dings aufgeworfene Frage, ob es der Wissenschaft einen
größeren Schaden verursache, wenn bahnbrechendenMeistern
Bilder abgesprochen werden, die sie dennoch gemalt haben,
oder wenn ihnen Bilder zugeschrieben werden, die nicht von
ihnen herrühren, vertritt Seidlitz offenbar die richtige Ansicht,
daß nichts gefährlicher für die Würdigung des Schaffens großer
Meister ist, als wenn ihnen mindestens zweifelhafte Bilder,
die sich ihrer Gesamtentwickelung nicht einfügen, gelassen
werden. Auch nur als zweifelhaft aber dürfte bald keines der
von Seidlitz verworfenen Bilder mehr angesehen werden.

Eine zweite Frage ist es, ob Seidlitz alle diese Bilder
den richtigen anderen Meistern zuschreibt. Seine Zu-
schreibungen beruhen alle auf gründlichster Kenntnis der
Schulen und Meister und wiederholter sorgfältigster Prüfung
der einzelnen Bilder. Aber er selbst hat seinen Stand-
punkt in bezug auf einige von ihnen gegen früher bereits
verändert. Jedenfalls wird man auch seine Neubestimmungen
als Ausdruck des gegenwärtigen Standes der maßgebenden
Forschung gelten lassen.

Alle diese Erörterungen Seidlitz' werden von ausführ-
lichen Darstellungen der Staats- und kulturgeschichtlichen
Zustände umrahmt, die Leonardos Schaffen in Florenz, in
Mailand, in Rom und in Frankreich begleiteten. Die
Schulen und Meister, aus denen Leonardo in Florenz her-
vorwuchs, von denen er sich in Mailand, dann wieder in
 
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