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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1901)
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A., ...: Alt und neu
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0015

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ein Stückchen Natur und Welt, Menschheit odcr Gottheit so sehen, so
denken, so fühlen lehrt, daß er mein Verhältnis nicht nur zum Abbild
der Dinge, nein, zu dcn Dingen selbst damit crweitert, bereichert,
vertieft, wer meine Fähigkeit erhöht, das Leben selbst in mein Sein
aufzunehmen, daß es zum Teil wird meines Jchs, wer meine eigenen
Organe nährt, bessert, bildet, meine körperlichen odcr seelischen Organe,
der gibt mir unmittelbare Lebenswerte. Das ist ja auch wieder lächerlich
selbstverständlich und allgemein zugegeben in dcr Thcorie, aber wie steht's
in dcr Praxis? Die unerbitrliche Notwendigkeit zum Leben und immer
und immer wieder über allen toten Niederschlag hin zum Leben zu
führen, wo finden wir sie als lenkenden Gcist eingesetzt? Ein halbes
Jahrhundert lang hat unsere Kunstwissenschaft Speichcr mit bedrucktem
Papier, hat unsre Kuust selber Magazine uird Galerien mit Schlechtein
und Gutem gefüllt, haben hundert Vereine gewirkt und haben die Re-
gierungen, wie man's so nennt, die Kunst gefördert, und nicht einmal
gesehen hat man's bei alledem, daß in Stadt und Land das herrlich
lebendige Alte iu leblosem Neuen ertränkt, daß die Ueberlieferung
natürlich-künstlerischen Gestaltens, dieses kostbarste Gut einer Kunstpflege,
abgeschnitten ward! Wie verschwindend selten sind die Versuche, aus dem
Leben herauszugestalten, wie selten an allcn Enden noch, dagegen: wie
schon zum Wesen gcworden ist der Gedanke, Reißbrett- odcr Buch- oder
Notenwissen genüge, um Leben in die Welt zu zeugenl Man spricht
von Papierdeutsch, herrscht uicht geradeso Papierkunst und Papiergewerbe?
Und nutzen wir etwa das Korn in dcn Scheunen? Säen wir damit,
backen wir Brot draus? Zum Einfahren haben wir Scharen von Kärr-
ncrn, aber dann? Wo sind bei der Allgemeinheit und ihrer Ver-
körperung, dem Staate, Bestrebungen, um mit Bildcrn und Büchern
nicht nur „Material für die Wissenschaft" zu sammeln, zu ordnen,
zu bcschreibeu, zu katalogisiereu, zu systematisiercn, sondcrn die Lebcns-
werte daraus zu schöpfen und darzubieten: eßt! Nur Ausätzen be-
gegnen wir, und diese Ansütze beweisen meist, daß man immer noch
nur dunkel ahnt und nicht erkennt. Das Leben als solches abcr
hungert nicht nach Literaturwisseuschaft uud Kunstgeschichte, sondern
es lechzt nach Leben, nach seincsgleichen, nach Einnahmc dessen, was
der Nächste Starkes gedacht und gefühlt hat, nach Ausgabe dessen, was
es selber denkt und fühlt, nach Austausch, der bereichert sowohl wie
befreit, und die Einen am Andcrn wachsen macht, und nach dem Ver-
jüngungstranke am Urquell, der Natur.

Alt uud neu — gut und schlecht! Jch dächte, wir sollten's immer
noch entschiedener versuchen, wenn wir von Altem wie wenn wir von
Neuem redeu, die Saite zum Schweigen zu bringen, die da mitschwingt
und stört. Hier alt und neu, dort gut und schlecht, das hat nichts mit-
einander zu thuu — wiederholen wir's getrost und gehen wir zum
Schlussc noch einmal über den Gemeinplatz, auf dem trotz allen Darüber-
laufeus so viel Uukraut gedeiht. Modernitis ist cine Knaben-, Antikitis
eine Grcisenkrankheit — hüten wir uns vor vcrspäteten Masern wie vor
verfrühter Gehirnverkalkung. Auf die Lebenswerte allein kommt's
an. Uud das ebensowohl für den gesunden Genuß bcim einzelnen
Menschen, wie für alle und jede Kunstpolitik.

Aunstwart
 
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