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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 11 (1. Märheft 1902)
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Göhler, Georg: Die Musikgeschichte und Lamprechts Geschichtstheorie, [2]: die neueste Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0561

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Oie l^lusikgesckickle uncl I^Ärnpreekls Gesckicklslkeorie.

2. Die neueste Zeit.

Es ist bereits angedeutet worden, daß Lamprecht auch die Ent-
wicklung der Musik von s600 bis gegen s800 in kurzem Ueberblick
skizziert, ohne sie mit den psychischcn Entwicklungsstufen, dercn Anwen-
dung auf die anderen Künste ihm auherordentlich glückt, fest verbinden
zu können. Es wird eben — und das zeigt immer wieder, wie not-
wendig der jungen Musikwissenschaft Förderung von jeder Seite. be-
sonders vom Staate Not thut — es wird eben noch vieler Vorarbeiten
bedürfen, ehe wir Fachmusiker dem Historiker die nötigen positiven Unter-
lagen geben können.

Andcrs liegt's ja bei der neuesten Zeit, die wir selbst erlebt haben
oder deren Studium ohne sondcrliche Schwierigkeiten Jedem möglich ist.
Nach Lamprecht ist das Charakteristikum der Zeit seit etwa s700 der
Subjcktivismus des Empfindungslebens. Mit Recht weist er darauf
hin, daß der Erste, der diesem Grundprinzip in der Musik vollkommen
Ausdruck gegeben hat, Beethoven gewesen ist.

Wenn in der vorhergehenden Periode der musikalischen Entwicklung
die einzelnen Erscheinungen des Lebens, jede menschliche Gemütsstimmung
für sich, wenn das Jndividuelle der einzelnen Persönlichkeit der musikalischen
Darstellung erschlossen wurde und wenn sich dabei gleichzeitig der Sinn für
die Lokalfarbe, wenn ich so sagen darf, jeder Stimmgattung und jedes Jn-
struments ausbildete, wenn die Virtuosität oder wenigstens die Solo-
leistungen großen Naum einnahmen, wenn die Arien mit obligaten Jn-
strumenten, die Solokantaten, die Orgel- und Klavierliteratur und viele
ähnliche Kunstformen Ergebnis dieser Zeit sind, wenn auch das Kunst-
werk großer Form (Oratorium, Oper und Passion) in lauter einzelne
Nummern zerfiel, die ihr Sonder-Dasein führen können, so entspricht
dies Alles cben dem vorangehenden Zeitalter der „individualistischen"
Empfindungsweise.

Jetzt aüer tritt die Persönlichkeit des Künstlers und des Hörers
als handelndes, als zusammenfassendes „Subjekt" zu dem Allcm
hinzu; was Teil war, wird Ganzes; was selbständig war, geht in ihr
auf, und sie selbst zerlegt sich nicht in tausend Teilchen, in ein Stückchen
Kampf, ein Stückchen Liebe, ein Stückchen Heiterkeit und ein Stückchen
Sieg, um vier unzusammenhängende Sützc einer Spmphonie darzustellen,
sondern läßt in einem großen Ganzen die reiche Welt aller Empfindnngen
sich bekämpfen und versöhncn. Oder malerisch gesprochen: dcr Künstler
malt nicht Figuren mit Konturen, sondern sieht cin Stück Leben im
freien Lichte des Geschehens. So haben wir die subjektivistische An-
schauungsweise in dcr Musik. Aber — sagt Lamprecht nun weiter —
in der jüngsten Zeit sind wir bereits etwas weiter als im Anfange des
Jahrhunderts; der Subjektivismus prägt sich jetzt in der besonderen
Form der Reizsamkeit aus.

Jch kann hier nicht darauf eingehen, in welcher Weise Lamprecht
dieses Wort genommen wissen will, kann auch nicht seine weiteren psycho-
logischen Darlegungen über Spannungsgefühle u. s. w. wiedergeben.
Diese Zeilen sollen ja in erster Linie den Lcscr anrcgen, das Buch selbst
in die Hand zu nehmen, um sich über den gemeinsamen Grundzug der

Huilstwart
 
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