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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1901)
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Bartels, Adolf: Vom deutschen Drama der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0016

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Vorn äeullcken Orarna cler 6egenrvAr1.

Unter allen curopäischen Kulturnationen hält die deutschc die Hoss-
nung, daß ihr noch eine gewaltige Entwicklung des Tramas beschieden
sein werde, am scstestcn, und sie hat auch am meisten Grund dazu.
Keiu nndcres Volk hat im ncunzehnten Jahrhundert vier dramatische
Genies auszuweisen wie Kleist, Grillparzer, Hebbel und Ludivig, keins
hat auch so viele starke Talente, wic sie uns im lctzten Jahr-
hundert in Zacharias Werner, Jmmermann, Raimund, Grabbe,
Büchner, Halm, Bauernseld, Gutzkow, Frcytag, Anzengruber,
Wildenbruch, Hauptmann geworden sind. Anderswo, sclbst in Frankreich
und ganz gewis; in England hat sich das Drama sozusagen von der
Poesie getrennt und ist ganz zu eincr — nnn, nenncn wir's Szenen-
kunst, geworden, dic niit den Mitteln einer überlieserten reich ausge-
bildeten Technik, einer seineren in Frankreich, eincr derbercn in England,
nicht sowohl Lebensbilder schafst, als künstliche Verwicklungen mit im
Ganzcn seststehenden Figuren lüst. Jn Deutschland dagegcn hat man
an dem Glaubcn, das; das Drama nicht nnr dem Lcben zu entwachsen,
sondern es zur Dichtung zu erhebcu habc, immer sestgehalten, mögen
auch bei uns die Macher, die den Franzosen ihre Kunst abguckten,
niemals gefehlt und sogar große äußere Erfolge errcicht haben. Es ist
doch wohl anzunehmen, das; sich der deutsche Glaube einmal belohnen
wird, das; wir, ivenn nicht den neucn Shakespere, doch noch cinen
neuen Schiller odcr Grillparzcr odcr Hebbel oder, was vielleicht noch
wünschenswcrter würe, einen großen Lustspicldichtcr cines Tages er-
halten wcrden.

Wie cs sich nun srcilich mit dem Bcrus der unmittclbaren Ge-
genwart zum Drama verhält, das ist nicht so leicht sestzustellen. Jch
habe schon früher einmal im Kunstwart ausgeführt, daß wir meincr
Ansicht nach jetzt cben dabei sind, die vcrschiedenen Epochen deutscher
Dichtkunst in kürzeren Zciträumen zu wiederholen, wie wir auch die
vcrschiedenen Stilc dcr bildcnden Kunst in den lctzten Jahrzehnten
repctiert haben. Das halte ich nicht ohne weitercs sür vcrderblich, jede
Kultur mus; wohl sogar hier und da cinmal ihre Besitztümer revidieren.
Die Aehnlichkeit dcr naturalistischcn Zeit mit dein ^oturm und Trang,
dcs Stzinbolismus mit dcr Romantik ist auch andcren Leuten auf-
gefallen; wenn die der Klassik entsprechcnde Entwicklung ausblieb, so
liegt das natürlich daran, das; sich die untcr dem Naturalismus auf-
getretenen Talentc nicht so cntwicklungssähig zeigten wie Goethe und
Schiller, obschon Gerhart Hauptmann immerhin das geworden ist, was
cr wcrdcn konnte. Nun ständcn wir, da wcder das naturalistische noch
das stzinbolistische Märchendrama hcute noch dic Bühne bchcrrscht, dcnn
schon im Zeitaltcr dcs jüngstcn Deutschlands oder der Tendenzlitcratur.
Oder sind nicht alle erfolgreichen Dramen, die in dcn letzten Jahren
hervorgetreten sind: Ernsts „Jugend von heute" und „Flachsmann als
Erzieher", Dretzers .Probekandidat", auch Hartlebens „Nosenmontag",
trotzdem hier die Tcndenz mehr verstcckt ist nnd cin Elcment der dckadenten
Sensation stark hervortritt, echte Tendenzdramen? Jch schrcibe hier als
Historiker, nicht als Kritiker, und es liegt mir fern, dic Tcndcnz an und
für sich zu tadeln. Hat der Tendenzdichter den gcziemenden Ernst,

Gktobcrheft 190;
 
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