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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 11 (1. Märheft 1902)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0567

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Lsse Vlättsr.

Oie Tlebersckwernrnung.

Von Ernst Wichert.

V o r b e nr e r k u n g. Ueber den kürzlich verstorbenen Ernst Wichert
haben nnr unsre Meinung gelegentlich seines siebzigsten Geburtstages ausge-
sprochcn (Kw. XIV, und dabei nicht vcrhehlt, dasj wir ihn für keinen so
bedeutenden Dichter halten, rvie andere thun. Persönliche Eigenschaften, die man
an Wichert liebte und bewunderte, haben sicherlich auch auf seine literarische
Wertschätzung „übergestrahlt": man braucht bloß die Art, wie die Menschen
reden, bei Wichert und bei einem unsrer wirklich großen Erzähler mit cin-
ander zu vergleichen, und bei diesen und bei ihm auf die innere und äußere
Wahrscheinlichkeit der Dinge zu achten, um des Abstandes gewahr zu
wsrden. Trotzdcm bleibt Wichert einer der Schriftsteller, deren Bestes man
nur zu eigenem Schaden übsrsieht; insbesondere die bei Reißner in Dresden
erschienenen „Littauischen Geschichten" sind gute Heimatserzählung. Wegen der
eigentümlichen und wenig bekannten Bevölkerung, die sie schildern, sind sie zu-
dem von hohem stofflichen Jnteresse. Wir geben dasjenige der nach unsrer
Meinung ain schönsten gelungenen Stücke daraus, das sich loslosen läßt; es
steht in der Erzählung „Der Schaktarp" und erklärt sich in allem Wesentlichen selbst.

»

Der Winter brach herein, gleich mit strengem Froste. Viele Fischer
wurden von ihm auf dem Haff überrascht und kamen in große Not. Ueber
Nacht gefror das Wasser eine Meile weit hinaus, am User entlang. Das EiS
war zu stark, um von den Kühnen durchbrochen werden zu können, und zn
schwach, um Menschen zu tragcn. Da bewährte sich des Fischmeisters ganze
Tüchtigkeit. Vom Lande aus versuchte cr, cine Rinne durch daS Eis schlagen
zu lassen. Da man auf dicse Weise zu langsam vorwürts kam, cilte er nach
der Stadt und ruhte nicht, bis man ihm das dort liegende Dampfboot zur
Verfügung stcllte. Mit Hilfe dessclben gelang cs ihm, ins offene Wasser vor-
zudringen und mehrcre der Fischer, die dort noch kreuzten, in Sicherheit zu
bringen. Einige warcn aber bereits ticf im Eise cingcfroren; es mußte ein
ncuer Versuch gemacht iverden, ihnen vom Lande aus nahc zu kommcn. Mit
leichten Booten, Handschlitten und langen Stangcn begab man sich unter
Führung des braven Kapitäns auf das unsichere Eis. Wo dassclbe znletzt ganz
unhaltbar wnrde, schlng man es mit Aexten ein. So gewann man freic
Fahrt zu den Kähnen und rettetc die Menschen, die achtundviorzig Stundcn
lang ohnc Lcbensmittel auf ihren offencn Fahrzengen dem scharfcn Froste aus-
gcsetzt geivcsen warcn. Dank wollte dcr Fischmeister von Keincm annehmen.

„Es ist ja meine vcrdammte Pflicht und Schuldigkeit", sagtc cr lachend
und die erstarrten Hände reibend.

Noch einmal riß der Wcststurm daS Eis auf, trieb cS in die Strom-
mündung hinein und schob es an dcn Ufern zusammen. Erst im Januar
wurde dic Decke fest, so daß die Wintcr-Fischerei in Zug komiiicn konnte. Nun
wurde es auch auf dcn Flüssen lcbendig; in langcn Reihcn fuhren Schlitten
mit hellem Schcllcngeläute das Hcu oon dcn iveiten Wicscnflächen der Niedcrung
ab, tcils tiefer in das Land hinein, teils über das Haff nach der Stadt. Jn
dcr Schcnkc am Moor war tüglich voni Morgen bis zuin Abcnd ein lustiges
Treibcn; da stampsten die Fnhrleutc in ihren Schafspelzen sich die Füße ivarm,
Uuiistwart

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