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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 11 (1. Märheft 1902)
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Göhler, Georg: Die Musikgeschichte und Lamprechts Geschichtstheorie, [2]: die neueste Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0562

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künstlerischen Anschauungsweise der jüngsten Zeit zn unterrichten; gleich-
zeitig möchte ich allerdings hie und da Bemerkungen hinzugeben, wie sie
sich dem Fachmusiker beim wiederholten Lesen der Lamprcchtschen Dar-
stellung aufdrängen.

Jn den Abschnitten über die neueste Tonkunst wird dcr Verfasser
hoffentlich der Zustimmung der wcitblickenden Musiker sicher sein können,
ja Viclen wohl Ausblicke erschließen, von denen sie selbst noch nichts ge-
wußt habcn.

Wenn man den Begriff dcr „Reizsamkeit/ d. h. des bis ins
Aeußerste verfeinerten Gcfühls für rein akustische Neize, wie auch für
differenzierte psychologische Vorgänge zur Erklärung des charakteristischen
Zugcs der gesamten ncueren Kunst vcrwendet, so wird man kaum eine
Erscheinung finden, auf die er sich nicht anwenden ließe. Lamprecht
läßt dabei prinzipiell die Frage offen, ob diese Verfeinerung gleichbe-
deutend mit Dekadenz sei, und vcrmeidet aus diesem Grunde das Wort
Nervosität. Als Typus der ganzcn Geistesrichtung gilt ihm Richard
Wagner. Jndem er im Einzelnen darstellt, wie sich in dessen Kunst-
werk die erhöhte Spannung aller Empfindungen und Gefühle ausdrückt,
indem cr aus die philosophische Grundlage des Wagnerschen Gesamt-
kunstwerks hinweist und gleichzcitig darauf aufmerksam macht, daß die
Musik übcrhaupt als die eigentliche „Nerveir"-Kunst in diesem Zcit-
abschnitt im Vordcrgrunde des Jickcresscs stchc und stehen müsse, faßt
er in der einen Person Wagners zusammen, was sich währcnd der Jahre
seiner Entwicklung und Vollendung als künstlerische Zeitstimmung in so
und so vielen Nebenmännern geteilt oder minder deutlich ausprügte.

Erfrculicher Weise arbeitel er dabei aber auch einer größeren Wert-
schätzung Franz Liszts vor, den in der richtigen Weise sicher einzu-
ordnen ihm allcrdings noch nicht gelungen ist. Aber sollte das bei einem
Historiker als Vorwurf gelten, mo selbst dic meisten Fachmusiker noch
nicht richtig zu urteilen gelernt haben? Die Darstellungen Lamprechts
in dem Abschnitte, der die Tonkunst behandelt, wollen ja überhaupt
mehr die geistigcn Grundlinicn dcr künstlcrischcn Kultur zeichnen, dcren
einer Faktor die moderne Musik ist, als eine detaillierte Zeichnung ihrer
einzelncn Erscheinungsformen geben. Jch hüttc deshalb nn Lamprechts
Stclle inich auch auf die Erwühnung von Pcter Cornelius, Hugo Wolf
und Brahms nicht cingelassen, sondern die Nusführung den Fachmusikern
überlassen. Es ist ja richtig, daß bei Brahms die erhöhte Neizsamkeit
sich in der Wahl archaisierender Farben aussprichl, die neue Wirkungen
machen müssen, wcil sie lange Zeit außer Gebrauch waren. Aber, wcnn
wir für Brahms nur den Maßstab hätten, dcr hiermit gegebcn ist, so
würde das gute Endurteil Lamprechts nicht berechtigt sein. Da Lam-
precht selbst das Zeitalter des Subjektivismus in die Perioden der Em-
pfindsamkeit, dcr Romantik und der Reizsamkeit einteilt, hätte er Brahms
nur als Ausläufer der zweiten Periode zu nehmen brauchen, dem die
neueren „reizenden" Elcmcnte natürlich nicht ganz fremd geblieben sind,
um ihn richtig einzuordnen.

Jch muß eben auch hier wieder vor Ueberspannung des Prinzips
und vor Schematisieruiig warnen. Lamprecht neniit seine Stufen selbst
Entwicklungsstufen. Müssen denn immer Alle auch nur annähcrnd gleich-
weit cntwickelt sein? Giebt's keinc Zurückgebliebenen, keine Vorläufer?

t- Närzhcft 1902
 
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