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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI issue:
Heft 11 (1. Märheft 1902)
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Göhler, Georg: Die Musikgeschichte und Lamprechts Geschichtstheorie, [2]: die neueste Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0563

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Auch die Charakteristik, die von Peter Cornelius und von Hugo
Wolf cingeflochten wird, somie die wenigen Worte über Strauß wären
zu ändern oder müßten wegblciben. Man kann bei Wolf ja schließlich
trotz alledem von früher Anerkennung reden; aber ist diese nicht vielleicht
zufällig durch das tragische Geschick des Komponisten veranlaßt? Und
verdiente Nichard Strauß nicht gerade jetzt, wo ihn Uebereifrige gegen
Wagner ausspielen, eingehende Betrachtung? Würe nicht an ihin zu
untersuchen, welche Wege die iinmer weiter fortschreitende Neizsamkeit
gehen wird und muß?

Jch vermisse auch einen Hinweis darauf, daß ueben den großen
Kunstformen, bei denen die erhöhte Thätigkeit aller nufnahmefähigen Teile
des menschlichen Organismus vom Komponisten fortwährende Spannung
und darum Einheitlichkeit ohne Verlegenheitsübergänge und genaue Dar-
stellung der psychologischen Entwicklung fordert, besonders die Kleinkunst
eincm Jntcresse begegnet, das sie vorher nie fand. Daß dagegen die
mittleren Formen wenig Liebe findcn.

Und schließlich scheint mir der Versuch unerläßlich, ueben der Reiz-
samkeit ein weiteres Momeut zu finden, cine treibende 5kraft, die, wenn
auch jetzt noch nicht voll entfaltet, doch für die Zukunft als wichtigstes
M0V6N8 in Betracht käme. Wir werden sie am besten finden, wcnn wir
von Beethoven ausgehen. Man wird nicht fchlgchen, wenn mau als
das Problcm, das ihn in den letzten Jahren am mcisten beschäftigtc,
die Stellung des Menschen zu metaphysischen Fragcn bezeichnet. Tie
Neunte, wie die Missa solemnis und die letzten Quartettc weisen über
den Menschen hinaus. Menschheit? Gottheit? Wer weiß hier Rat?

Diese Fragen eiuer großzügigen, subjektivistischen Denkweise wurden
zunächst liegen gelassen, als die Romantik kam. Mendelssohn und
Schumann streifen sie fast uie. Jhre Kunst ist Episode im großen Ver-
lauf der Geschichte. Erst mit Liszt beginnt wieder das Antworteu dar-
auf. Schon die Berg-Symphonie rührt an das große Problem. Dante-
Symphonie, Faust-Symphonie, Christus sind weitere Versuchc. Mit
Reizsamkeit allciu als Grundprinzip der Geistesrichtung sind diesc Dinge
nicht abgcthan; sclbst, wcnn man Neizsamkeit auch in dem Sinne faßt:
zum Erfassen großcr, wcltuinspaunender Jdcen fühig scin.

Wir müssen hicrfür ein weitercs Fundament finden. Haben wir
doch auch uoch eineu, für deu wir's brauchcu, den wir mit Reizsamkeit
nicht erklären, den wir abcr auch nicht als uninodern, d. h. dcm Geiste
seiner Zeit ferner abthun könncn, und das ist Anton Bruckner.

Ucber dessen innerstes Wesens gehen jetzt die Meinungen noch so
auseinander, daß hier auf dem Wege eiuer Abschweifuug Klarheit schaffen
zu mollen cin vergebliches Bemühen wäre. Man hat ihn, wcil er
Beziehungen zu Wagner hatte und desseu Orchester für seine Symphonien
verwendete, unter die Nachfolger Wagners eingestellt. Nichts törichter
als das. Wenu unscre Musikschriftsteller nicht am Aeußerlichen haften
blicbeu und große Zusammenhänge sehen gelernt hätten, wüßtcn sie
längst, daß der Gcgensatz von Bruckner und Wagner tausendmal stärker
ist, als alle ihre klcincn Aehnlichkeiten. Es ist nicht bloß äußcrlicher Zufall,
daß Wagner niemals zur Aufführuug eines Bruckncrschen Werkes ge-
kommen ist, noch ihn mit allem seinem Einfluß gefördcrt hat. Sie waren
viel zu verschiedenartige Naturen.

Runstwart
 
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